Der Esper und die Stadt
die gleiche Richtung. Da stand ein Mann, ein kleiner, kahl werdender Mann, der einen weißen Umhang mit purpurnen Streifen trug. Er war ziemlich muskulös und gleichmäßig gebräunt. Er stand da, beobachtete und lauschte. Dabei nahm er eine Pose ein, die Wachsamkeit und Selbstbewußtsein zeigte. Er sah die Männer eindringlich an.
Sie warteten darauf, daß er sie zurechtwies, da er sie bei etwas erwischt hatte, für das sie eine Strafe verdienten.
Er lächelte und sagte: „Bringt ihn nicht um, Kinder! Er hat mir noch nicht geweissagt.“
Die Männer lachten und entspannten sich. Der Mann war Akbar Hisham, ihr Führer.
Im Geschichtsunterricht in der 6B hatte man uns eine Videoaufzeichnung von der achtzehn Jahre zurückliegenden Ankunft der Flüchtlinge in New York gezeigt. Wichtige Leute hatten sie willkommen geheißen, und eine Kapelle hatte gespielt. Akbar Hisham hatte damals jünger ausgesehen. Er hatte schwarzes Haar gehabt, nach dem Mikrofon gegriffen und hineingesprochen.
„Ihr bietet uns an, eure Brüder zu werden“, hatte er ohne zu lächeln gesagt. „Bruderschaft bedeutet, daß ihr das, was ihr habt, mit dem teilt, was wir haben. Alles, was wir jedoch teilen können, sind Niederlage, Ungerechtigkeit und Demütigung. Das werden wir eines Tages teilen, aber nennt uns nicht eure Brüder. Wir sind eure Opfer.“
Das war gewiß nicht die freundliche Dankesrede, die man in New York erwartet hatte, aber trotzdem hatte man diesem Mann gegenüber, der es gewagt hatte, gegen die Stadt Drohungen hervorzustoßen, eine Mischung aus Verehrung und Überraschung verspürt.
Er war mit einem Versprechen fortgefahren: „Wir werden das Geld nehmen, das die Welt uns für den Diebstahl und den Verlust unseres Landes schuldet, und werden uns wieder zu Stolz und Stärke erziehen. Nehmt euch in acht vor der nächsten Generation.“
Jetzt war er älter, zerfurchter und verknitterter, aber er war keinesfalls heiterer als damals während seiner Rede. Ein Rudel geschlagener und verbitterter Krieger führt man auch nicht mit freundlicher Zuvorkommenheit. Und doch war Akbar Hisham ein weltbekannter Gelehrter und Historiker. Den anderen Gelehrten und sonstigen Angehörigen der gebildeten Schicht hatte man erlaubt, weiter in ihren besetzten Gebieten zu leben, sofern sie nicht in andere Länder gezogen waren und dort Arbeit angenommen hatten. Nur Akbar Hisham hatte sich dazu entschieden, mit den Flüchtlingen zu gehen und für ihre Rechte zu kämpfen.
Er nahm lächelnd auf einem Lederkissen Platz. Ich sah seinen kahlen Hinterkopf. „Ich habe gehört, daß der Gefangene mit dem Kopfschmuck eines irakischen Besuchers und einer Polizeimarke in der Tasche hereinkam. Er soll weder seine Nationalität beweisen können noch Arabisch sprechen. Und man hat ihn geschnappt, als er im äußeren Büro die Post durchwühlte. Wie stümperhaft!“
„Er ist verrückt, Effendi. Als wir ihn schnappten, gebärdete er sich wie ein Irrer und faselte, er könne die Zukunft sehen, weil er bald sterben müsse. Er erzählte dem Mann, der ihn fing, etwas über dessen Vergangenheit. Und dann sagte er, er werde sehr reich werden.“
Hisham nickte. „Ich habe schon gehört, daß er euch gut an der Nase herumgeführt hat.“
Die Männer protestierten. „Er sieht Bilder im Sand.“ – „Er hat mir meine Vergangenheit erzählt.“ – Sie lobten Ahmeds Fähigkeiten als Wahrsager geradezu in den Himmel.
„Auch die Frauen sagen, daß er die Wahrheit gesagt hat.“ Sie versuchten Hisham umzustimmen.
Nur Selim, der Mann, der Ahmed hatte töten wollen, saß mit einem mürrischen Gesicht neben seinem Führer, ohne in den Chor der anderen
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