Der Esper und die Stadt
werfen.
„Noch nicht, George“, sagte er mit normaler Stimme. „Zu früh. Es besteht keine Gefahr.“
„Zu früh?“ heulte Selim, der glaubte, Ahmed wolle ihn herumkommandieren. „Wir hätten dich schon vor zwei Tagen umbringen sollen, du ungläubiger, spionierender israelischer Hund! Stirb!“
Ahmed mußte wissen, was er tat. Um Selim brauchte ich mich also nicht zu kümmern. Sehr langsam, damit es nicht auffiel, ließ ich die ausgebeulte Sperrholzwand los. Ihre Nägel waren jetzt lose. Ich brauchte nur noch dagegen zu stoßen, und sie würde fallen. Langsam, ohne ein Geräusch zu machen, rutschte sie wieder in die ursprüngliche Lage zurück. Ich seufzte erleichtert. Es war kein guter Plan gewesen, auf sechs bewaffnete Männer loszugehen. Ahmed hatte recht. Es bestand kein Anlaß. Mir fiel wieder ein, wie unsere Bande mit Messerstechern fertig geworden war. Wer eine starke und schnelle Linke und ein bißchen Praxis hat, kann einem Rechtshänder leicht die Klinge wegnehmen. Ahmed hatte es so lange mit uns geübt, bis man uns mit Messern nichts mehr anhaben konnte. Bei den Übungen hatte es keiner von uns geschafft, ihn auch nur mit einem Holzmesser zu berühren. Ahmed war von Natur aus schnell. Und er hatte lange, schnelle Arme. Wenn er Selim Sand in die Augen warf und das vor ihm stehende Tischchen als Keule benutzte, war seine vermeintliche Hilflosigkeit, da er an die Bank gefesselt war, ein reiner Witz auf Selims Kosten.
Das Gelächter und Gejohle auf der anderen Seite deutete an, daß Selim es zum Amüsement der arabischen Soldaten, die nun sahen, daß es zwecklos war, immer noch versuchte. Aber wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, daß sie aufstanden, um Ahmed festzuhalten?
Vielleicht sollte ich weiter aufpassen, aber mir gefiel ihr Gelächter nicht. Sie hörten sich an wie ein Hunderudel, das zwei kämpfenden Wölfen zusieht. Das Gesetz der Intimsphäre ist richtig!
Die Intimsphäre ist die Basis für das Recht, anders zu sein. Keiner sollte zu lange irgendwelchen Leuten zusehen, die andere Vorstellungen von Recht und Unrecht haben. Das hat man mir in der Schule beigebracht. Und es stimmt. Als ich diesen Leuten zusah, wünschte ich mir, von hier fortzugehen oder sie umzubringen. Sie waren keine typischen Araber, sondern der Pöbel der Flüchtlinge, der Abschaum einer geschlagenen Armee, die nichts konnten außer kämpfen; die Zurückgewiesenen, denen ihre Frauen ins Lager gefolgt waren. Andere Männer, die Fähigkeiten und Berufe hatten, waren zurückgekehrt, obwohl die Israelis es ihnen nicht gestattet hatten, weil sie die Rache arbeitsloser Attentäter fürchteten, woraufhin die Heimgekehrten vor ihrer Grenze kampierten, heimatlos und von keinem Land der Erde gewollt – bis die UNO verlangt hatte, daß jedes Land der Welt eine kleine Gruppe von ihnen aufnahm und ihnen eine Berufsausbildung ermöglichte. Israel hatte dankbar dafür gezahlt, bloß damit man sie abholte.
Als sie in New York angekommen waren, hatten sie nicht das geringste Wissen gehabt – nur Groll und Rachepläne im Herzen. Sie hielten sämtliche Bewohner der Stadt für Juden. Ob sie stolz darauf waren, Araber zu sein? Wenn man sie so beobachtete, war es nicht schwer, alle Araber hassen zu lernen. Ich stellte fest, daß meine Fäuste sich aneinander rieben und mußte jeden Muskel einzeln entkrampfen, um meine Wut abzustreifen.
Das Gejohle und der Lärm wurden zu einem Crescendo. Dann verstummte alles, als hätte jemand einen Fernseher abgeschaltet. Die Anwesenden stießen einen erschreckten Schrei aus.
Ich lugte durch den Lichtspalt und sah, daß sie sich alle zur Tür gedreht hatten. Ich wechselte die Stellung und sah in
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