Der Experte: Thriller (German Edition)
starrte er den Hüttenboden an – ein erstaunliches Kunstwerk, eine Nachschöpfung von Boschs Garten der irdischen Lüste, die Tausenden von Intarsien ein Beleg der Virtuosität und Besessenheit seines Vaters.
»Mein Vater hat es getan.«
»Wie lange?«
»Jahrelang. Seit ich fünf oder sechs war, glaube ich.«
Sein Vater stand in einer ausgebleichten Denim-Latzhose vor ihm und hielt das Rasiermesser mit dem Perlmuttgriff in der Hand.
»Was wissen wir, Sohn?«
»Das Leben weckt in uns ein schmerzliches Verlangen nach den Dingen, von denen wir glauben, wir brauchten sie.«
»Und …«
»Der Schmerz macht uns schwach.«
»Warum hat er es getan? Kennen Sie den Grund?«
»Um mir alles über Schmerz beizubringen.«
»Was müssen wir deshalb tun?«
»Uns den Schmerz zu eigen machen, jeden Tag ein wenig, und stark werden.«
»Aber wieso? Ist etwas passiert, das ihn dazu gebracht hat?«
»Das weiß ich nicht.«
Sein Vater setzte die Klinge auf seinem Oberschenkel an. »Sag es mit mir, Sohn.« Gemeinsam sangen sie leise. »Dein Blut, mein Blut, unser Blut …«
Geiger schob die Visionen fort. Er spürte die Signale seines Körpers. Er musste schlafen. Christine beugte sich zu ihm vor.
»Und Ihre Mutter? Wo war sie, als … als das geschah?«
»Ich erinnere mich nicht an meine Mutter. Ich habe nicht viele Erinnerungen an meine Jugend.«
Christines neues Wissen veränderte die Art, wie sie sein Gesicht wahrnahm. Er wirkte … jünger.
»Das tut mir leid«, sagte sie.
»Wir tragen alle etwas mit uns herum, Christine.« Er nahm sein Glas und trank es langsam leer. »Ich werde jetzt nicht mehr reden. Ich muss einige Stunden schlafen.«
»Das Bett im Gästezimmer ist gemacht. Saubere Laken. Letzte Tür rechts.«
Geiger erhob sich vom Tisch und ging den Korridor entlang. Christine drehte sich um und blickte ihm hinterher – die leichte Schiefheit seines Ganges, der merkwürdig, aber nicht unelegant wirkte, die Spuren des Wahnsinns, die sich mit jedem Schritt leicht verschoben. Sie versuchte, sich das furchtbare Ritual vorzustellen – vielleicht würde ihr das helfen, das Unaussprechliche zu erfassen –, doch als ihr Bilder vor Augen traten, konnte sie es nicht ertragen, sie anzusehen.
Sie ergriff den mittleren Messingknauf am Wohnzimmerschrank und zog daran. Die Schublade klemmte. Sie war lange nicht mehr geöffnet worden. Christine ruckelte daran, und sie ließ sich herausziehen. Nachdem Christine einiges von ihrem Inhalt beiseitegeschoben hatte – ein halbes Dutzend Kerzen, ein Päckchen Servietten mit Blumenmuster, noch immer in der Zellophanhülle –, fand sie, was sie suchte. Sie nahm das dünne, ledergebundene Album heraus, trug es zum Couchtisch und setzte sich aufs Sofa.
Sie schlug das Album auf und beugte sich darüber. Auf der ersten Seite hafteten drei Fotografien in einer Schonhülle aus Plastik: Sie in ihrem Krankenhausbett, das Neugeborene in den Armen, das sein winziges weißes Mützchen schief trug; Harry auf einem beigefarbenen Sofa, wie er lächelnd das Baby im Arm hielt und mit der Flasche fütterte, Christine neben sich, ihre Hand lag auf seinem Schenkel; Harry, wie er in einem breiten Polstersessel thronte, die zweijährige Sophie auf dem Schoß, und beide blickten in eine New York Times ,die er aufgeschlagen in den Händen hielt.
Eine Träne fiel auf die Plastikhülle und sah aus wie der erste Tropfen eines Gewitters, der gegen die Fensterscheibe prallt. Dann öffnete der Himmel seine Schleusen, und es begann zu gießen.
26
Er hatte das Licht brennen lassen und lag wegen der Schmerzen in seiner Schulter auf dem Rücken statt wie üblich in der Fötushaltung. Er hörte, wie sie in den Raum kam und am Bett stehen blieb.
»Herr Geiger …?«
Er öffnete die Augen. Sie blickte zu ihm hinunter, auf beiden Wangen eine glänzende Tränenkette. Geiger beobachtete, wie sie herunterrollten. Der Akt des Weinens hatte ihn immer beeindruckt. Tränen waren einzigartig, ausgelöst durch jedweden starken emotionalen Zustand. Er hatte einmal eine Liste über die Auslöser des Weinens angefertigt, sie in einen seiner Ordner geheftet und stundenlang studiert; hatte zugesehen, wie die Verbindungslinien zwischen den Wörtern wuchsen wie auf einer Straßenkarte die Routen zu Zielorten, die er nie gekannt hatte: Angst und Glück, Beklommenheit und Vorfreude, Verlust und Erfüllung, Verzweiflung und Vergnügen, Trauer und Wonne …
»Kann ich mich neben Sie legen … nur kurz?« Ein
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