Der Experte: Thriller (German Edition)
Christine beobachtete seine langen, schlanken Finger bei der Arbeit, wie er gelassen den Alltag für den denkbar extremsten Fall herrichtete.
»Herr Geiger …?«
Seine Hände kamen zur Ruhe. Er blickte zu ihr hoch und wartete.
»Haben Sie jemals einen Menschen getötet?«
»Ja«, sagte er, »aber nicht so, wie Sie meinen.«
»Woher wissen Sie dann, dass Sie es könnten – falls Sie es müssen?«
Sie entdeckte eine momentane Veränderung in Geigers Miene, ohne dass sie sagen konnte, wo sie stattfand – an den Lippen, am Kiefer, in den Augen.
»Sie sind hier, um Leben zu retten , wie also können Sie …«
»Christine – für Sie ist es eine intensive Erfahrung gewesen, aber es wäre ein Fehler, wenn Sie annehmen würden, dass Sie mich auch nur ansatzweise kennen.«
»Vielleicht sind Sie ja gar nicht so unerkennbar, wie Sie denken.«
»Vielleicht.« Geiger stand auf und ging zu seiner Reisetasche.
»Was tun Sie?«
Mit dem iPad kehrte er an den Tisch zurück und begann zu tippen. »Harry bewahrt alles in einem gesicherten Datenspeicher auf. Finanzaufstellungen, Akten, Sitzungsprotokolle und Videos.« Er hörte auf zu tippen, drehte das Tablet herum und schob es ihr zu. »Rufen Sie die SDVD-Dateien auf.«
Das Display zeigte eine Liste solcher Dateien – Dutzende und Aberdutzende, jedes mit einem Buchstabenpaar und einem Datum.
»Welche? Es gibt so viele …«
»Einhunderteinundzwanzig, Ezra nicht eingeschlossen. Es ist gleichgültig, welche Sie auswählen.«
Sie musterte die Einträge. Sie begannen 1999, der neueste hieß SDVD_JM_29–6–2011. Die Menge allein schon erzeugte bei ihr eine Gänsehaut. Einhunderteinundzwanzig Menschen.
»Warum wollen Sie, dass ich das tue?«
Geiger nahm wieder seinen Kaffee und trank einen großen Schluck. »Sie haben mich gefragt, wie ich mich sehe. Ich versuche, Sie sehen zu lassen, wer ich bin.« Er stellte die Schale ab. »Sie nannten mich den Inquisitor.«
Christine blickte zu ihm hoch. »Das sind Videos – von Ihnen?«
»Ja.«
Etwas Heißes strömte ihr ins Blut, ein Strahl der Wut, den das Herz ihr in die Adern pumpte. Die Welt war so sehr vom Schmerz erfüllt, dass sie aus den Nähten platzte. Christine hatte es lange genug selbstständig beobachtet. Sie brauchte seine Hilfe nicht.
»Wie hundserbärmlich, so etwas zu tun.« Sie schob das iPad zu ihm zurück. »Ich werde mir das nicht ansehen – und Sie können zur Hölle fahren.« Sie nahm ihre Kaffeeschale und marschierte in die Küche.
Geigers Blick fiel auf den Bildschirm.
WS_3–17–1999.
WS – Warren Sloan. Er fragte Gott, weshalb er ihn verlassen habe.
PK_7–9–2002.
PK – Paul Knowles. Beim Anblick des Rasiermessers wurde er ohnmächtig.
Einhunderteinundzwanzig Momente, in denen die Wahrheit ausgegraben und ans Licht gezerrt wurde, schreiend und um sich tretend in all ihrer schlammigen, abgekämpften Glorie – und jeder um einen unbeschreiblichen Preis errungen. Welche Buße, wie viele Prüfungen, welche unerlässliche Voraussetzung würde ihn hoch genug erheben, damit er die Riffe überwinden und es aufs offene Meer schaffen konnte?
NB_10–20–2005.
NB – Nico Bartelli. Er wiederholte immer wieder: ›Weißt du eigentlich, wer ich bin, du kleines Arschloch?‹
EG_11–4–2009.
EG – Eide Garson. Sie sagte, sie werde es ihm auf jede Weise besorgen, wenn er sie nur nicht ins Gesicht schlug.
Er fragte sich, ob er sich an jeden Namen erinnerte …
Christines Stimme klang gemessen und beherrscht. »Möchten Sie noch Kaffee?«
»Ja«, sagte er, nahm das Messer und setzte seine Arbeit fort.
Er war auf der Terrasse und rauchte eine Zigarette. Von ihrem Platz am Tisch sah Christine sein Spiegelbild im Glas der Türscheibe. Geigers Aufbruch würde sie in eine Vorhölle aus Zweifel und Hoffnung versetzen. Vielleicht brachte sie den Rest ihres Lebens damit zu, dass sie sich fragte, ob sie alle tot waren – und fuhr bei jedem Klingeln der Glocke an der Tür des Cafés herum, um zu schauen, ob Harry hereinkam.
Geiger kehrte ins Haus zurück. »Zeit zu gehen.«
»Sind Sie sicher, dass ich Sie nicht zur Metro fahren soll?«
»Ja«, sagte Geiger und nahm seine Jacke. Beim Anziehen bewegte er seine Schulter langsam und methodisch.
Sie stand vom Tisch auf. »Tut es weh?«
»Ja, aber das ist kein Hindernis.«
Er nahm seine Tasche. Christine fragte sich, ob eine Schusswaffe darin lag. Sie vermutete, dass dem nicht so war, und stellte überrascht fest, dass sie hoffte,
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