Der Experte: Thriller (German Edition)
er habe eine.
»Was passiert jetzt?«, fragte sie.
»Ich nehme den Zug nach Avignon. Am dortigen Bahnhof erwarten mich Anweisungen.«
»Avignon? Sie sagten doch, sie wären in Tulette.«
»Richtig, aber Dalton weiß nicht, dass mir das bekannt ist.«
Sie schüttelte den Kopf, ohne dass ihr Blick ihn losließ. »Sie stürzen sich da hinein, ohne zu wissen, was geschehen könnte … Das ist Irrsinn. Sehen Sie das denn nicht?«
Er zog den Reißverschluss an der Jacke hoch. »Ich sehe einen Anfang, eine Mitte und ein Ende, Christine.« Als er zur Tür ging, folgte sie ihm.
»Und was soll das bedeuten?« Sie hörte den eigenen harten Unterton.
»So betrachtete ich die Dinge – Anfang, Mitte, Ende –, und ich konzentriere mich darauf, an welcher Stelle des Prozesses ich stehe.« An der Tür wandte er sich zu ihr um. »Es ist kein Irrsinn, Christine. Vielmehr ist es töricht zu glauben, dass man jemals wirklich wissen kann, was einem bevorsteht. Daher blicke ich nie auf das Ende, ehe es sehr nahe ist.«
Er erinnerte sich, wie seine Mutter ihm vorgelesen hatte. Er saß auf ihrem Schoß, den mageren, knochigen Rücken an ihre Brust geschmiegt, während ihre Arme ihn umschlossen und die Hände das Buch vor sie beide hielten. Der Geruch von Lavendel und das Gefühl des Friedens waren untrennbar miteinander verknüpft, und wenn sie eine Seite umblätterte, neigte sie den Kopf, sodass sie ihm auf den Rand seines Ohrläppchens küssen konnte.
»Gerade sah es so aus, als würden Sie ganz schwach lächeln«, sagte Christine.
»Wirklich?«
»Einen Augenblick lang ja.«
Geiger nickte. »Wenn Sie es sagen, muss es stimmen.«
Sie trat nahe zu ihm, hob die Hand und legte sie auf seine glatte Wange. Sie betrachtete sein Gesicht lange sehr aufmerksam. Oft kommt es nicht vor, dass man in dem Moment, in dem es geschieht, mit absoluter Sicherheit weiß, dass man jemanden zum letzten Mal sieht – und nach dem heutigen Tag wollte Christine nicht, dass die Erinnerung seine Züge verschwimmen ließ oder ihre Empfindung sie veränderte. Sie wollte ihn so im Gedächtnis behalten, wie er tatsächlich war.
Geiger hob langsam die Hand und umschloss vorsichtig ihre Rechte. Die Wärme ihrer Haut wirkte beinahe narkotisch.
»Ich muss jetzt gehen.«
Ihre Hände sanken gemeinsam herab, einen Augenblick lang wie ineinander verschlungen. Dann trat sie einen Schritt zurück. Er öffnete die Tür. Die kühle Morgenluft glitt an ihm vorbei wie eine Katze, die aus der Kälte hereinstürmt.
»Passen Sie auf sich auf.«
»Leben Sie wohl, Christine.«
Sie holte erst Luft, als er gegangen und die Tür mit einem leisen Schnappen ins Schloss gefallen war. Sie fror nicht nur von der Kälte, sondern auch von der Müdigkeit und der Angst in ihren Adern. Sie ging ins Wohnzimmer und nahm den Pullover vom Sofa. Während sie ihn überzog, blickte sie auf die alte Fotografie, die sie in der Nacht in einen Rahmen getan und auf den Couchtisch gestellt hatte. Das Foto zeigte zwei Menschen, in der Dämmerung von hinten aufgenommen – Silhouetten eines Erwachsenen und eines sehr kleinen Kindes, die nebeneinander in einem Park saßen und zusahen, wie die Sonne hinter dunklen Hügeln am anderen Ufer eines Flusses versank. Es war immer Harrys liebste Aufnahme von ihnen beiden gewesen.
DRITTER TEIL
27
Nachdem er Christines Haus verlassen hatte, ging Geiger an der nächsten Metrostation vorbei und weiter – er brauchte die Bewegung und die kühle Luft.
Er erinnerte sich daran, wie das Baby in seinen Armen gestorben war. Ein letztes undeutliches Seufzen hatte das Ende seiner kurzen Stunden markiert, und er hatte sich gefragt, ob es überhaupt gewusst habe, dass es lebte. Er erinnerte sich, dass sein Vater Mutter und Kind gemeinsam begraben hatte, in das gleiche Laken gehüllt, und dass an ihrem Grab kein einziges Wort gesprochen wurde.
Irgendetwas erhitzte bestimmte Stellen in ihm und bog sie wie ein Schmied, der die härtesten, kältesten Gegenstände in neue Formen bringt. Seine Mutter. Sanft und blutüberströmt und in seiner Erinnerung und verloren.
Er erinnerte sich an den beißenden Gestank von Benzin und Rauch, als sein Vater alle Kleider der Mutter in dem Fünfzig-Gallonen-Fass hinter der Hütte verbrannte. Er erinnerte sich an den Befehl seines Vaters, dass weder Mutter noch Säugling jemals wieder erwähnt werden durften, weil von den Schwachen zu sprechen bedeute, Schwäche ins eigene Leben zu holen. Er erinnerte sich, dass sein Vater
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