Der Experte: Thriller (German Edition)
sich selbst im Spiegel. Die violetten Augen leuchteten sie an. Manchmal, wenn sie ihr Spiegelbild betrachtete, sah sie noch immer den Wildfang, der sie gewesen war – wie sie den Traktor lenkte, wie sie schneller rannte als alle anderen, wie sie, wenn ihr danach war, Dewey grundlos verprügelte.
Sie zog das T-Shirt und die Shorts aus, stieg in die Duschkabine und stellte das Wasser so heiß ein, wie sie es gerade ertrug. Sie war einen Schritt weiter.
Victor trat in sein Zimmer, warf seine Jacke aufs Bett, setzte sich und massierte seine Knie. Das viele Gehen hatte die Arthritis befeuert. Er konnte seinen Vater im Schaukelstuhl sehen, wie er jeden Abend das gleiche Ritual ausführte. Le fléau de Bran , so nannte er es. Den Fluch der de Brans. Eines von vielen Dingen, die er seinem Sohn vererbt hatte.
Ächzend erhob er sich und öffnete die Verbindungstür. Zannis Dusche lief. Dampf quoll aus der offenen Tür des Badezimmers.
»Zanni, ich bin wieder da!«
»Holen Sie den anderen Wagen und fahren Sie ihn vor! Geiger hat gerade angerufen. Er sitzt im Zug nach Avignon!«
Er ging wieder in sein Zimmer. Sein Daumennagel wanderte an den Spalt in seinem Kinn, fuhr hoch und runter, während er die Information verarbeitete. Geiger spielte also doch mit – und Victor nahm einige Anpassungen seiner Einschätzung des großen unbekannten Sachverhalts vor.
Dewey.
War Geiger an seinem Verschwinden beteiligt? Falls ja, entstanden dadurch weitere Unbekannte. Wie viel hatte Geiger aus Dewey herausbekommen? Kannte Geiger die wahren Zusammenhänge? Falls ja, entstanden wieder neue Unbekannte. Hatte Geiger deshalb angerufen? Halte deine Freunde dicht bei dir, aber deine Feinde noch dichter?
Seine abgewetzte alte Reisetasche lag offen auf einer kleinen Bank. Marokko … 1987 … ein Basar in Tanger … der deutsche Bankier, der sich mit mehreren Millionen abgesetzt hatte … vom Dach gestoßen, in der Tasche einen gefälschten Abschiedsbrief. Victor blickte sich im Zimmer um, nahm seine Weste und legte sie auf die ordentlich gefalteten Kleidungsstücke in der Tasche, dann schloss er die Schnallen. Er war stets aufbruchbereit. Er ging mit der Tasche zur Tür, hielt inne und stellte sie ab.
»Ich bin schon unterwegs! Zwei Minuten! Ich muss nur noch mal pinkeln!«
Der Zug nach Avignon war ein eleganter TGV Duplex mit sanft ansteigendem Triebkopf. Geiger war in die obere Ebene gestiegen und hatte einen Sitz am Gang mit Blick auf die Treppe bezogen. Im Waggon saß noch ein Dutzend anderer Fahrgäste. Während der Fahrt nach Süden schenkte er der Landschaft nur wenig Aufmerksamkeit, sondern starrte auf die Muster auf der Rückseite des Sitzes vor ihm und überdachte Szenarien für eine Zukunft, der er mit dreihundert Stundenkilometern entgegenraste.
Als er aus dem Zug auf den Bahnsteig stieg, empfing ihn sein Spiegelbild in den gewölbten Glas- und Stahlwänden des Gare d’Avignon. Die Sonne war ein weißglühender Fleck auf dem Glas, der Himmel war klar. Er hoffte, dass sich das Wetter hielt.
Er bezweifelte, dass Dalton ihn im Zug hatte beschatten lassen, doch als er sich dem Eingang näherte, kniete er neben seiner Reisetasche nieder. Während er vorgab, etwas darin zu suchen, betrachtete er die Spiegelbilder der anderen aussteigenden Passagiere – eine junge Mutter mit zwei unleidlichen Jungen im Schlepptau, ein kahlköpfiger alter Mann mit tabakfleckigem Schnurrbart, drei mürrische Teenager in marineblauen Schuluniformen …
Die Bahnhofshalle bestand aus aufragenden Wänden, die sich graziös nach innen krümmten und weit oben in einer kathedralenhaften Glaskuppel zusammentrafen. Streifen aus Sonnenlicht, die durch die Schlitze im Stahl fielen, trafen wie leuchtende Balken den Boden. Geiger blieb stehen und blickte hinauf, drehte sich langsam im Kreis, schenkte sich einen Moment, um die beeindruckenden, eleganten Winkel in sich aufzunehmen. Dann ging er den belebten Gang entlang – Menschen hasteten, um ihren Zug zu bekommen, scharten sich unter der großen Auskunftstafel oder standen an einem Café für Brot und Kaffee an.
Geiger folgte dem Schild zum Taxistand, als er merkte, dass sich ihm jemand von hinten näherte.
»Monsieur? Pardon, Monsieur …«
Das tonlose, näselnde Französisch hätte aus einem Kinderbuch von Rosetta Stone stammen können. Geiger wandte sich um. Der Mann trug ein kariertes Flanellhemd und khakifarbene Slacks, die »Tourist aus dem Corn Belt« schrien – oder schreien sollten.
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