Der Experte: Thriller (German Edition)
Geflüster und Gerüchte geben, vielleicht auch Spekulationen in den Medien, doch keinerlei Aufklärung und keine Beweise. Ezra würde der letzte Standhafte sein, aus Eigensinn ebenso sehr wie aus Hoffnung, doch je mehr Tage ohne E-Mails und entschuldigende Chatnachrichten seines Vaters vergingen, desto mehr würde der Junge die Wahrheit akzeptieren, denn er hatte zu intensiv und viel zu früh erfahren müssen, dass es korrumpierende Mächte gab, die ohne Zögern vernichtend zuschlugen. Das war das Erbe, das sein Vater ihm hinterließ.
Er senkte das Bein auf die Matratze. Beim Rasseln der Kette öffnete Harry die verschwollenen Augen und leckte sich die Lippen.
»Verdammt …« Sein Blick traf Matheson. »Ich fühle mich beschissen.«
»Du bist eher purpurn, Harry.«
»Purpurn?« Stöhnend richtete er sich auf, bis er an der Wand saß. »Würdest du sagen, eher violett – oder mehr pflaumenblau?«
»Pflaume, mit Einsprengseln von Aubergine.«
»Aber das sieht doch gut aus, oder? Pflaume hat mir immer gestanden.«
»Ja, das stimmt.«
»Ich habe einen Sweater in Pflaumenblau. Darin sehe ich umwerfend aus.«
Matheson beobachtete, wie sich die Andeutung eines schwermütigen Lächelns in Harrys Gesicht abzeichnete. Es war Jahre her, dass Matheson genügend Zeit mit einem anderen Menschen verbracht hatte, um ein Gefühl dafür zu bekommen, wer der andere wirklich war, geschweige denn, sich um ihn zu kümmern. Er und Harry wären ein gutes Team gewesen …
»Ich muss mal pissen«, sagte Harry. Er schwang die Beine herum, sodass seine Füße auf dem nackten Boden lagen, stemmte die unversehrte Hand an die Wand und begann sich aufzurichten.
»Vorsichtig, Harry.«
Harry erhob sich unsicher, atmete tief durch, damit sein Herz einen neuen Rhythmus fand, und schlurfte zur Campingtoilette. Seine Kette rasselte über den Boden.
»Mein Gott … Guck dir das an. Ich seh aus wie Jacob Marley.« Er zog seinen OP-Kittel hoch und begann zu urinieren.
»Wir müssen reden, Harry.«
»Worüber?«
»Ezra.«
»Nein.«
»Nein?« Mathesons Brauen bewegten sich wie Wippschaukeln. »Was soll das heißen?«
»Was ich gerade sagte. Ich mache da nicht mit.«
»Was genau ist denn das ›da‹, von dem du glaubst, dass ich darüber sprechen will?«
»Du willst von mir das Versprechen, dass ich mich um Ezra kümmere, falls du stirbst und ich nicht – und das ist Blödsinn.«
»Blödsinn? Na, Harry, leck mich am Arsch.«
Harry schüttelte den letzten Tropfen ab, ließ den Kittel herabfallen und drehte sich um.
»Hör mal gut zu!« Der plötzliche Lautstärkenanstieg ließ den Raum viel kleiner erscheinen. »Mein Gott! Entweder bringt Dalton uns beide um – dann kann ich mein Versprechen wohl kaum halten –« Ein unerwarteter stechender Schmerz ließ Harry innehalten und nach Atem ringen. »Oder er lässt uns laufen, wie er es versprochen hat – und dann kannst du selber zu deinem Sohn gehen und allein zusehen, wie du deine verdammten Sünden wiedergutmachst.«
Matheson nickte langsam. »Gut.« Das knappe Wort hatte den tonlosen Klang eines Nagels, der in etwas Hartes eingeschlagen wird.
Harry blickte zum Fenster und starrte die zehn Zentimeter hohe senkrechte Öffnung zwischen den Brettern an. Der Raum dahinter sah aus wie ein Stillleben, unten Lavendel, oben gestreifter Himmel. Er ging näher, bis die Kette ihn aufhielt. In seinen Schläfen pochte der Puls wie ein Kolbenmotor. Er wollte hier nicht sterben. Er wollte irgendwelchen Schaden anrichten. Etwas zerstören. Aus vollem Hals brüllen. Etwas in Fetzen reißen. Er sah auf seine Kette.
»Motherfucker …«
Er bückte sich nach ihr, packte sie mit beiden Händen und schleuderte sie auf den Boden.
»Muh-thur-fucker!« Das laute Klirren, das seine Aufschreie begleitete, klang wie ein Schlagzeug aus der Hölle. Hoch, runter, hoch … Harrys ureigener Zigeunerchor. »Muuuh-thurrr-fuuuucker!!«
Matheson hatte den Gesichtsausdruck eines Unbeteiligten, der einen Mehrfachauffahrunfall auf einem eisigen Highway beobachtete – ein Auto krachte schlitternd ins Heck des vorausfahrenden, dann noch eins, und wieder eins.
»Fuck!«, knurrte Harry. Bamm! »Fuck!« Bamm! »Mother-fucking Fuck!«
Er knallte die Kette ein letztes Mal auf den Boden, schwankte und fiel auf den Hintern. Seine Brust hob und senkte sich, und er atmete pfeifend.
Matheson wusste nicht, was er sagen sollte, also schwieg er. Zuerst fand er, Harry erinnere an einen Wasserspeier an der
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