Der Fälscher aus dem Jenseits
die Zwangslage, war tatsächlich ausgefallen und zugegebenermaßen sehr gewagt.
13. August 1913. Das Ehepaar Lambert saß allein in einem Abteil erster Klasse in Richtung Paris. Eigentlich wollten sie nicht nach Paris, aber da es zwischen den Provinzstädten kaum Direktverbindungen gab, musste man von Dijon aus über Paris fahren, um nach Lourdes zu gelangen.
Das war nämlich Madame Lamberts Idee: ein falsches Wunder! Nach einem Bad in dem Wunder bewirkenden Wasser könnte ihr Mann einfach behaupten, dass er geheilt sei, und alles käme wieder in Ordnung.
Als seine Frau ihm das erklärt hatte, war ihr Armand Lambert mit Tränen des Dankes um den Hals gefallen und hatte sie geküsst. Danach hatte er lange gebraucht, um ihr alle Skrupel auszureden, da Céleste ziemlich fromm war. Anschließend verlieh er dem Plan noch einen persönlichen Touch. Das »Wunder« sollte möglichst viel Aufsehen erregen. Dann käme er nämlich nicht nur wieder auf die Beine, sondern wäre von einem Tag auf den anderen eine Berühmtheit. Er wäre in der ganzen Gegend, vielleicht sogar in ganz Frankreich bekannt. Man würde sich in seinem Laden zu Tode quetschen und dort alles Mögliche kaufen, nur um ihn sehen zu dürfen.
Ja, das Ehepaar Lambert hatte sich da etwas ausgedacht, was zwar ziemlich verwerflich, aber auch absolut genial war. Der falsche Unfall hatte ihnen Wohlstand gebracht, während das falsche Wunder den Behinderten heilen und ihnen diesmal praktisch zu Reichtum verhelfen sollte.
Darum hatten sie auch bis Mitte August gewartet, um nach Lourdes zu fahren. Am 15. August strömten dort die meisten Pilger zusammen, sodass das Wunder an diesem Tag das größtmögliche Aufsehen erregen musste. Dafür hatte Armand Lambert noch ein paar Monate im Rollstuhl ausgehalten. Jetzt konnte ihn nichts mehr aus dem Gleichgewicht bringen.
Im Abteil erster Klasse lächelte Armand seiner Frau zu.
»Wenn wir wieder in Dijon sind, müssen wir auf das Schaufenster eine Madonna malen. Wir müssen dem Laden auch einen anderen Namen geben. Was hältst du von Zum Wunder ?«
Céleste Lambert zog ein schiefes Gesicht.
»Etwas vulgär. Mir wäre Zur heiligen Bernadette lieber.«
Die ganze Reise über drehte sich das Gespräch um dieses interessante Thema und um ihre vielen Zukunftsprojekte. Zwei Tage später, am 15. August, kam dann der große Moment. Mit wild pochendem Herzen schob Céleste den Rollstuhl ihres Mannes. Den ganzen Vortag hatte sie beim Frisör verbracht.
»Das Haar ist etwas kurz geschnitten, findest du nicht? Ich fürchte, in der Zeitung sieht das schrecklich aus.«
»Ach was. Mach dir keine Sorgen.«
»Es war auch ein Fehler, das blaue Kleid anzuziehen. Blau steht mir nicht.«
»Die Fotos sind sowieso nicht in Farbe.«
»Das stimmt. Du hast Recht. Ich bin ja so aufgeregt.« In einer langen Schlange schoben sich Rollstühle und Tragbahren zum Klang frommer Gesänge langsam auf das Becken zu, in das man die Kranken tauchte. Armand und Céleste bemerkten die vielen Reporter und Fotografen. Sie hatten sich ihren Tag gut ausgesucht.
Nach mehreren Stunden in der Bruthitze kamen sie endlich an die Reihe. Zwei kräftige Krankenpfleger packten Armand Lambert und tauchten ihn ins Wasserbecken. Dieser ließ sich auf den Grund sinken, stellte sich dann auf die Beine und rief mit bewegter Stimme: »Ich kann gehen!«
In der Menge herrschte erst Unentschlossenheit, dann machte sich ein Raunen breit und schließlich ertönte ein triumphierender Schrei: »Mein Mann kann wieder gehen! Ein Wunder!«
Da entstand ein unbeschreiblicher Freudentaumel. Manche Pilger fielen auf die Knie und murmelten Gebete, während andere versuchten, sich dem ehemaligen Gelähmten zu nähern. Umringt von Fotografen hob dieser seinen Rollstuhl hoch und schrie: »Ein Wunder!« Abends im Hotel wurde das Ehepaar Lambert ans Telefon gerufen. Der stellvertretende Bürgermeister von Dijon war am Apparat. Seine Stimme zitterte: »Monsieur Lambert, wir erwarten Sie voller Ungeduld. Wann kehren Sie zurück?«
Armand Lambert streckte die Beine aus und lehnte sich zurück: »Das weiß ich noch nicht.«
»Monsieur Lambert, der ganze Stadtrat wird kommen, dazu der Präfekt, das Blasorchester und natürlich der Klerus.«
Dem Lebensmittelhändler schwoll die Brust. Er hatte Recht behalten. Damit war sein Ruhm gesichert. Er tat, als müsse er überlegen.
»Wir haben noch viele Verpflichtungen. Ich würde sagen am 20. August...«
20. August 1913 im Eilzug Lourdes-Paris.
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