Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer: Roman (German Edition)
still, aber sie schlafen nicht; in jeder Gasse gibt es vom Kummer gequälte Witwer oder von Zahnschmerzen geplagte Jungfern, die ans dunkle Fenster eilen, wenn draußen auf dem Kopfsteinpflaster die Absätze eines Fremden hallen. Gilliéron ist sich bewusst, dass er, seit er aus dem Zug gestiegen ist, kaum einen unbeobachteten Schritt gemacht hat. In die Weinberge hätte er nicht gehen können, dort wachen die Kettenhunde; in den Sumpf auch nicht, dort wäre er mit seinem Koffer weithin sichtbar gewesen und hätte erst recht den Argwohn der Bürger von Villeneuve auf sich gezogen.
Auch am Hafen steht Gilliéron unter Beobachtung, das ist ihm klar. Hier aber ist er in den Augen der Bürger ein harmloser Tourist, der versehentlich eine Station zu früh aus dem Zug gestiegen ist und nun eine Stunde totschlagen muss, bis der nächste Zug kommt. Dass er währenddessen nicht auf dem Bahnsteig hin und her läuft, sondern einen Spaziergang zum Hafen unternimmt, ist zwar bemerkenswert, aber nicht gänzlich ungehörig. Und wenn er sich auf einen Poller setzt und ein bisschen mit seinem Gepäck hantiert, ist das auch kein Grund zur Aufregung. Hauptsache, er steht rechtzeitig wieder auf und geht zurück zum Bahnhof, damit die einsamen Witwer und Jungfern wieder zu Bett gehen können.
Die Asche seines Vaters versinkt im dunklen Wasser und ist nicht mehr zu sehen; die größeren Knochenstücke werden senkrecht auf den Seegrund fallen, die Asche wird verwehen und sich weitherum mit dem Schlick des Seegrunds vereinen. Schlick ist nichts anderes als Erde, denkt Gilliéron, letztlich führt auch ein Seemannsgrab in Mutter Erde. Die Zigarrenkiste dümpelt an der Hafenmauer. Eine gewöhnliche Zigarrenkiste, nichts weiter. Sie wird im Lauf der Nacht davontreiben, in den nächsten Tagen irgendwo an Land gespült werden und friedlich in einem Haufen Treibgut verrotten.
Drittes Kapitel
Felix Bloch hat das Mädchen im Orient-Express nie wiedergesehen, denn sie ist in Zürich nicht aus dem Zug gestiegen. Laura d’Oriano fuhr an jenem Novembernachmittag weiter über Basel nach Belfort und nahm dort am nächsten Morgen, während Felix Bloch das Immatrikulationsbüro der ETH aufsuchte und Emile Gilliéron in Triest auf seinen Dampfer wartete, den Schnellzug nach Marseille, wo ihre Eltern sich zur Ruhe setzen und die Musikalienhandlung eines entfernten Verwandten übernehmen wollten. Es war Zeit, dass die Odyssee der Familie ein Ende nahm. Ein halbes Jahrhundert waren die d’Orianos unterwegs gewesen, zwanzig Jahre lang war die Mutter als jugendliche Chansonneuse durch die Luxushotels des Vorderen Orients getingelt. Jetzt war sie müde und sah den Tag nahen, an dem ihr das Strumpfband und das Dekolleté auf der Bühne keine Hilfe mehr sein würden. Auch der Vater war müde und hatte Leberschmerzen. Und für die fünf Kinder war es ebenfalls Zeit, sesshaft zu werden.
Laura und ihre Geschwister waren vom vielen Reisen und vom Luxus, den sie als Künstlerkinder in den Grand Hotels hatten kosten dürfen, kapriziös und frühreif geworden. Sie hatten Tischmanieren wie englische Grafenkinder und konnten tanzen wie Kosaken, und untereinander sprachen sie ein buntes Gemisch aus Englisch, Französisch, Griechisch, Russisch und Italienisch. Sie rauchten wie die Türken und interessierten sich für die Londoner Aktienkurse, sie kannten die Tarife der Fährschiffe am Bosporus und wussten, wie man eine Orange mit Messer und Gabel isst. Aber sie hatten nie mit Nachbarskindern Räuber und Gendarm gespielt, weil sie nie anderer Leute Nachbarskinder gewesen waren, und Weihnachten hatten sie immer in Gesellschaft fremder Hotelgäste gefeiert, und ihre einzigen Freunde waren die Zimmermädchen und Portiers gewesen, welche die Kinder der d’Orianos wiedererkannten und mit Vornamen grüßten.
Wie alle Nomaden richteten sie sich in der Routine des Reisens häuslich ein. Die erstgeborene Laura fand ihr Zuhause in den wechselnden Proberäumen und Künstlergarderoben, in welche die Mutter sie schon als Säugling mitgenommen hatte, um sie zwischendurch stillen zu können. Nachmittags lauschte sie den Proben der Musiker, und abends schaute sie der Mutter beim Schminken und Abschminken zu, und rund um die Uhr nahm sie Anteil an den immer gleichen Künstlerdramen um Selbstzweifel, Weltschmerz und Unverstandensein, die sich hinter den Kulissen ereigneten. Kein Tag, keine Stunde durfte verstreichen ohne Dramolett, ständig gab es Treueschwürde, Ohnmachtsanfälle und
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