Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer: Roman (German Edition)
ihr Horizont umspannte die Welt. Aber sie waren wurzellos und bindungslos, und im Herzen ein wenig verkümmert. Und das schon in dritter Generation.
Die Odyssee der Familie hatte ein halbes Jahrhundert zuvor im napoletanischen Fischerdorf Pozzuoli mit Vincenzo d’Oriano, dem Großvater der Kinder, begonnen. Er war ein glutäugiger Fischerjunge gewesen und hatte gerade zuoberst auf einer Pyramide aus Heringsfässern ein Lied gesungen, als ein reicher Engländer mit seiner Jacht in den Hafen einlief und Vincenzo aus einer Laune heraus vom Fleck weg als seinen persönlichen Bänkelsänger engagierte. Während der ersten Überfahrt nach Palermo hatte der Engländer sich nicht satthören können am Gesang des pittoresken Fischerjungen, der am Bug napolitanisches Liedgut zum Besten gab, aber dann folgte die Überfahrt nach Korfu und jene nach Piräus, dann jene nach Heraklion und nach Naxos, und bis die Jacht an der türkischen Ägäisküste angelangt war, hatte Vincenzo sein Repertoire gewiss hundertfach bis zum Überdruss des Engländers in den levantinischen Himmel hinausgeschmettert, weshalb dieser froh war, ihn im Hafen von Smyrna mit den besten Wünschen und einer großzügigen Abfindung zu entlassen.
Wie der junge Vincenzo d’Oriano sich die ersten Jahre so weit weg von Zuhause über Wasser hielt, liegt im Dunkel der Geschichte und wird kaum mehr herauszufinden sein. Aktenkundig ist, dass er am 29. Januar 1877 – am 14. Muharram 1294 nach islamischer Zeitrechnung – in der Kathedrale von Smyrna eine Teresa Capponi heiratete, die ihm in den folgenden vierundzwanzig Jahren acht Kinder schenkte, die alle ebenfalls in der Kathedrale von Smyrna getauft wurden und von denen das drittletzte ein Junge namens Policarpo war. Dieser heiratete mit vierundzwanzig Jahren – wiederum in der Kathedrale von Smyrna – im Mai 1910 die damals noch hoffnungsvolle, zwanzigjährige und bildschöne Chansonneuse Aida Agnese Caruana, zog als ihr Beschützer und Pianist durch den Vorderen Orient und zeugte mit ihr unterwegs die eigensinnige Laura und deren vier Geschwister.
Das war nun vorbei, diese Welt gab es nicht mehr. Das Osmanische Reich war im Großen Krieg zerfallen in eine unübersichtliche Zahl traumatisierter, hysterischer kleiner Nationalstaaten, die einander aufs Blut bekämpften, bisher unbekannte eth nische Unverträglichkeiten erfanden und ihre neu gezogenen Grenzen zu unüberwindlichen Barrikaden ausbauten. Handel und Verkehr kamen zum Erliegen, die Schiffe blieben in den Häfen. Die Grand Hotels in Beirut und Alexandria hatten keine Gäste mehr, die Kabaretts sperrten zu, die Musiker wurden nach Hause geschickt.
Da sie keine Auftritte und kein Einkommen mehr hatten, zogen sich die d’Orianos nach Smyrna in das Haus des verstorbenen Großvaters zurück. Die Mutter hatte keine Auftritte mehr, der Vater gab noch ein bisschen Klavierunterricht. Zwei Jahre lebten sie müßig in der schönen, alten Hafenstadt, die von manchen das Paris des Ostens genannt wurde und von anderen die Hauptstadt der Toleranz, weil hier seit Homers Zeiten Menschen aus aller Herren Länder und aller Religionen friedlich zusammengelebt hatten; sie hatten friedlich zusammengelebt unter den griechischen Kolonisten, und sie hatten friedlich zusammengelebt unter den Kaisern von Rom und Byzanz und unter dem Schutz der Kalifen viele Jahrhunderte lang; sie hatten friedlich zusammengelebt bis zum 15. Mai des Jahres 1919 nach Christi Geburt, als griechisch-nationale Truppen in die Stadt einfielen und in hellenistischem Taumel die muslimische Bevölkerung massakrierten, worauf dreieinhalb Jahre später Atatürks Truppen ebenfalls in die Stadt einfielen, in kemalistischem Taumel die nicht-muslimische Bevölkerung massakrierten und Smyrna bis auf die Grundmauern niederbrannten.
Man muss vermuten, dass die d’Orianos im Brand einen Großteil ihres inzwischen recht spärlichen Hab und Guts verloren. Ob ihnen im letzten Augenblick die Flucht auf einem Fährschiff gelang oder ob sie zu Fuß landeinwärts übers Küstengebirge entkamen, weiß man nicht. Sicher ist, dass sie zwei Jahre später in Konstantinopel den Orient-Express nahmen und über Budapest und Wien nach Zürich fuhren, um in Marseille ein neues Leben zu beginnen.
Ich kann mir vorstellen, dass die d’Orianos nach der Ankunft in Marseille an jenem Novembermorgen 1924 am Bahnhof Saint-Charles einen Träger engagierten, der ihre Koffer auf einem Karren über die Canebière hinunter zum Alten
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