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Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer: Roman (German Edition)

Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer: Roman (German Edition)

Titel: Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Capus
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Hafen schob. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass die Sonne am freundlichen Himmel der Côte d’Azur durch die breiten Straßen schien und die neuen, palastartigen Wohnhäuser der Handelsbürger zum Leuchten brachte.
    Marseille war kürzlich zu großen Teilen neu erbaut worden als Tor zum französischen Kolonialreich in Afrika und Ostasien. Ein Hauch von Orient lag in der Luft, in den Straßen sah man schwarze Bärte und Kaftane, türkische Pluderhosen und Turbane, aber auch britische Stehkragen, weiße Soldatenuniformen und französische Bérets, und alle fuhren einträchtig nebeneinander Straßenbahn, machten miteinander im Kaffeehaus Geschäfte oder hielten nach ein- und ausfahrenden Schiffen Ausschau.
    Der Hafen verfügte über neue, großzügige Docks und Quais mit modernen Löschkranen und Güterzügen zum Abtransport der Kolonialwaren. In den Hafenbecken hingegen lagen keine neuen Dampfschiffe, sondern hauptsächlich altertümliche Segelschiffe aus Holz. Mächtige hanseatische Fünfmaster aus dem 19. Jahrhundert lagen neben eleganten amerikanischen Klippern, norwegische Gaffelschoner neben arabischen Dauen, sogar chinesische Dschunken legten gelegentlich an; moderne Dampfschiffe aus Stahl hingegen sah man selten, weil ein Großteil der weltweit verfügbaren Dampferflotte 1914–18 auf den Grund des Ozeans versenkt worden war. Nach dem Krieg hatten die Reeder deshalb sämtliche noch halbwegs seetüchtigen Holzschiffe hervorgeholt, und weil mit den Stahlschiffen auch ein Großteil der weltweit verfügbaren Seeleute ertrunken war, hatten die Reeder auch die Altersasyle durchkämmt und mit sanftem Druck jeden weißbärtigen, zahnlosen Seebären angeheuert, der noch halbwegs aufrecht stehen konnte und seine fünf Sinne noch einigermaßen beisammen hatte.
    Das neue Zuhause der d’Orianos stand am Vieux Port in einem Riegelbau aus dem 18. Jahrhundert. Im Erdgeschoss befand sich die Musikalienhandlung, darüber auf zwei Etagen die Wohnung, die aus vier kleinen Zimmern und einem Salon mit Blick auf das Hafenbecken bestand. Die Wände waren weiß getüncht, das Treppenhaus duftete nach Bohnerwachs. Laura inspizierte das Haus im Wissen, dass sie hier drei Jahre würde ausharren müssen. Sie würde zur Schule gehen und zu keinerlei Beanstandungen Anlass geben, und sie würde zu Hause den Einkauf und den Abwasch besorgen und nachmittags im Laden aushelfen. Nach einem halben Jahr des Wohlverhaltens würde sie die Mutter um Erlaubnis bitten, Gesangsstunden am Konservatorium von Marseille zu nehmen und gelegentlich ein Konzert zu besuchen. An ihrem sechzehnten Geburtstag aber, das wusste sie ganz sicher, würde sie ihren Koffer packen und nach Paris fahren.
    Und zwar allein.

    *

    Felix Bloch war einer der seltenen Menschen, denen im Leben ein Erweckungserlebnis zuteilwurde, und er sollte sich bis ans Ende seiner Tage daran erinnern. Es geschah am Schluss seines ersten Studienjahrs am letzten Tag seines vierwöchigen Industriepraktikums kurz nach halb sechs, als er im Büro der Gießerei Fritz Christen in Küsnacht am Zürichsee zum letzten Mal am Reißbrett stand. Drüben in der Gießerei war es schon still, die Arbeiter waren ins Wochenende gegangen. Die Sekretärin hatte Mantel und Tasche unter den Arm geklemmt und sich verabschiedet, der Chef saß noch am Fenster über den Büchern. Draußen auf dem See tutete ein Schiffshorn, das Licht ließ allmählich nach. Bald würde man die elektrischen Glühlampen einschalten müssen.
    Felix Bloch zog mit Tusche den letzten Strich an der letzten Zeichnung eines Kanalisationsdeckels, den die Gießerei im kommenden Winter in Produktion nehmen wollte. Vier Wochen lang hatte er sich neun Stunden täglich mit diesem Deckel beschäftigt, er kannte ihn in- und auswendig – ein kreisrunder Gussschachtdeckel samt Rahmen von sechzig Zentimetern Durchmesser und fünf Zentimetern Dicke mit eingelassenem Hebegriff und Firmennamen in der Mitte sowie vierundzwanzig konzentrisch angeordneten Oberflächenwasserabflusslöchern und senkrecht zueinander verlaufenden Rutschsicherungsrillen.
    Am ersten Arbeitstag hatte der Chef ihm einen Stoß Papier mit Bleistiftskizzen und technischen Maßen in die Hand gedrückt und ihm aufgetragen, daraus brauchbare technische Zeichnungen für die Werkstatt und die Verkaufsabteilung anzufertigen. Kanalisationsdeckel waren ein gutes und sicheres Geschäft. Seit immer mehr Menschen Auto fuhren, florierte der Straßen- und Kanalisationsbau. Kanalisationsdeckel

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