Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer: Roman (German Edition)
Schliemann.
Kein Mensch auf der Welt könne das mit Sicherheit wissen, sagte Gilliéron.
Aber man könne sich doch einen Reim machen, entgegnete Schliemann.
Das könne man immer, sagte Gilliéron, beugte sich schulterzuckend über das Tablett und schob die Fragmente hin und her. Dann griff er nach dem bereitliegenden Zeichenblock und entwarf in Minutenschnelle einen Wagenkämpfer, in dessen Faust ein Speer lag und dessen rechter Fuß auf dem liliengeschmückten Wagenrand ruhte.
Großartig, sagte Schliemann, das ist des Rätsels Lösung. Dass ich das nicht selbst gesehen habe, es liegt ja auf der Hand.
Darauf ordnete Gilliéron die Bruchstücke anders und zeichnete auf einem neuen Blatt einen Tempelwächter, der eine brennende Fackel in der Faust hielt und einen Kopfschmuck mit Lilienornament trug.
Schau an, sagte Schliemann, Sie sind mir ja einer! Der Wagenkämpfer vorhin war Quatsch, das sehe ich jetzt.
Gilliéron riss auch dieses Blatt ab und zeichnete einen Laokoon, der sich in einem Lilienfeld mit Händen und Füßen gegen Würgeschlangen wehrte.
Das ist ja … sagte Schliemann. Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?
In der Folge zeichnete Gilliéron einen Theseus im Kampf gegen Andromache, dann einen attischen Olivenbauern bei der Ernte und einen siegreichen Athleten mit einem Ölzweig, und jede Zeichnung beinhaltete eine Faust, einen Fuß und ein Lilienornament. Schliemann folgte seinem Bleistift mit atemloser Begeisterung. Gilliéron zeichnete Stierkämpfer und Schafhirten und Seefahrer, dann auch eine Amazone, die mit blankem Schwert ein nacktes Paar verfolgte.
Die zwei Nackten kenne ich aber, sagte Schliemann. Wo habe ich die schon gesehen?
In der Sixtinischen Kapelle, erwiderte Gilliéron. Adam und Eva bei der Vertreibung aus dem Paradies, von Michelangelo.
Sie sind mir ja einer, sagte Schliemann erneut.
Emile nahm ein weiteres Blatt und zeichnete einen Jüngling mit einem Schafbock.
Und das? fragte Schliemann.
Johannes der Täufer, von Caravaggio.
Gilliéron fertigte noch rasch einen kleinen Botticelli und einen Degas an, dann riss ihm Schliemann den Bleistift aus der Hand.
Schluss jetzt mit den biblischen Scherzen, sagte er, es ist Zeit fürs Mittagessen. Sie bleiben hier, wir essen en famille und sans façon , ich dulde keinen Widerspruch. Meine Frau hat Moussaka kochen lassen. Danach setzen wir einen Vertrag auf, Sie bleiben ein Jahr. Mindestens.
Sechs Monate, sagte Gilliéron.
Ein Jahr, sagte Schliemann.
Höchstens sechs Monate, sagte Gilliéron. Im Oktober beginnt am Genfersee die Weinlese, da muss ich wieder zu Hause sein.
Wieso denn das, sagte Schliemann.
Mein Vater hat einen Weinberg, log Gilliéron.
Sie bleiben ein Jahr, sagte Schliemann, ich dulde keinen Widerspruch. Wir fahren zusammen nach Troja, Mykene und Tiryns, danach brauche ich Sie hier in Athen. Und jetzt zu Tisch.
Soso, dachte Gilliéron, während er seinem Dienstherrn in den Speisesaal folgte. En famille und sans façon, der Mann duldet keinen Widerspruch. Wir werden sehen.
Zwischen der Abreise des jungen Mannes nach Griechenland und der Heimkehr seiner Asche an den Genfersee liegt ein halbes Jahrhundert. Sein Sohn geht mit dem Koffer hinunter zum Hafen, seine Schritte hallen auf dem Kopfsteinpflaster. Die Segeljollen der Ausflügler liegen winterfest vertäut im Wasser, auf den Spieren sitzen schlafende Möwen. Er schaut auf seine Taschenuhr. Noch dauert es eine Stunde, bis der nächste Zug nach Brig fährt. Dort wird er den Nachtzug nach Triest nehmen, wo am Nachmittag der Postdampfer nach Athen abgeht, wo ihn seine Gattin empfangen und ihr neuestes Akropolis-Ölbild präsentieren wird.
Emile Gilliéron junior geht ans Ende des Quais, setzt sich auf einen Poller und nimmt die Zigarrenkiste aus dem Koffer. Sie enthält ein Häuflein taubengraue Asche. Drei oder vier Handvoll vielleicht, da und dort lugt ein fingernagelgroßes Knochenstück hervor. Ob’s wirklich die Asche seines Vaters oder jene eines anderen Wesens ist, spielt jetzt keine Rolle mehr. Er ist seinem letzten Willen nachgekommen, das allein zählt.
Emile schaut hinunter ins schwarze Wasser, das leise gegen die Hafenmauer klatscht. Langsam lässt er die Asche ins Wasser rieseln, die Zigarrenkiste wirft er hinterher. Eigentlich ist es ein Seemannsgrab, das er dem Vater hier bereitet. Aber wo hätte er in Villeneuve ein stilles Fleckchen Erde finden können, um ihn unbemerkt zur letzten Ruhe zu betten? Kleine Städte wie Villeneuve sind nachts
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