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Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer: Roman (German Edition)

Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer: Roman (German Edition)

Titel: Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Capus
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Gemeinverständlichkeit so sehr als möglich zurückgedrängt« habe, um die »vorbereitenden physikalischen und chemischen Tatsachen«, auf die sich die neue Atomphysik stütze, in Kürze und ohne unverständliche Formeln zu entwickeln. Schon auf der ersten Seite aber stolperte Felix über Begriffe, die als bekannt vorausgesetzt wurden, ihm jedoch keineswegs geläufig waren. Und nach dem ersten Kapitel musste er sich eingestehen, dass er schon die vorbereitenden Tatsachen nicht begriff, weil es ihm an notwendigen Vorkenntnissen fehlte. Und als er sich diese Vorkenntnisse anzueignen versuchte, stellte sich heraus, dass ihm auch dafür die Vorkenntnisse fehlten.
    So war beispielsweise gleich auf Seite eins von einem elektromagnetischen Feld die Rede. Um herauszufinden, worum es sich dabei handeln mochte, ging er in die Bibliothek und lieh »Theorie der Elektrizität« von Max Abraham aus. Dieser beteuerte in seinem Vorwort ebenfalls, dass ihm beim Verfassen des Buches Gemeinverständlichkeit oberste Maxime gewesen sei, aber er verwendete schon im ersten Kapitel Rätselbegriffe wie »Korpuskularstrahlen« und »Zyklentheorie«, zu deren Erklärung Felix sich wiederum andere Werke ausleihen musste.
    Felix gab sein Bestes, sich ein Grundwissen anzueignen, machte aber die Erfahrung, dass der menschliche Verstand einem Muskel ähnelt, der bei ungewohntem Arbeitsaufwand zu Lähmungserscheinungen neigt und auch bei regelmäßigem Training nur in beschränktem Maß leistungsfähiger wird.
    Als er das zweite Kapitel las, in dem Professor Sommerfeld die »zentralen und peripheren Eigenschaften des Atoms« behandelte, geriet Felix an den Rand der Kapitulation, und als es im vierten Kapitel um »Vorbereitendes zur Quantentheorie« ging, empfand er die narzisstische Kränkung seines schwachen Hirnmuskels derart schmerzlich, dass er ernsthaft in Erwägung zog, das Buch zu retournieren und reumütig zu den Maschinenbauern und Kanalisationsdeckeln zurückzukehren.
    Vielleicht blieb er hauptsächlich deshalb bei der Atomphysik, weil er sich vor seinem Vater nicht blamieren wollte. Nach ein paar Wochen und Monaten machte er zudem die angenehme Erfahrung, dass auch die schwierigsten Gedanken leicht verständlich werden, wenn man sie erst mal begriffen hat; zudem wurden mit Fortgang des Studiums seine Wissenslücken allmählich kleiner oder ihre Ränder zumindest erahnbar. Zwar fühlte er sich noch immer wie ein Eisbär, der auf einer kleinen Eisscholle der Kenntnis über einen Ozean des Unwissens trieb; mit der Zeit aber tauchten andere Eisschollen auf, er konnte von einer zur nächsten hüpfen, sie wurden zahlreicher und die Distanzen zwischen ihnen kürzer, und gegen Ende des zweiten Semesters hatten einige Schollen sich zu einer Insel von Packeis zusammengeschlossen, auf der Felix schon einen recht sicheren Stand hatte.
    Und dann lernte er seine Kommilitonen kennen, denen es auch nicht anders ging. Jeder balancierte auf seiner persönlichen, eher zufällig zustande gekommenen Eisscholle in der Hoffnung, eines Tages akademisches Neuland zu entdecken. Die einen befestigten Stromkabel an Salzkristallen und versuchten zu begreifen, was in deren Innerem vor sich ging, andere fuhren über den Rhein, um in deutschen Apotheken radioaktive Doramad-Zahnpasta zu kaufen und diese auf hauchdünne Metallfolien zu schmieren, und wieder andere schauten in den Weltraum und stellten sich gewaltige Explosionen im Inneren von Sternen vor.
    Als der Frühling kam, freundete sich Felix Bloch mit zwei deutschen Doktoranden namens Fritz London und Walter Heitler an, die als Schrödingers Assistenten nach Zürich gekommen waren. Sie waren fünf Jahre älter als Felix und versuchten den Bindungskräften in Molekülen auf die Spur zu kommen, indem sie Wasserstoff erhitzten und mit Licht bestrahlten. An den Wochenenden ging er mit ihnen am Hönggerberg spazieren oder führte sie auf Bergtouren in die Glarner Alpen. Fritz London und Walter Heitler beeindruckten Felix Bloch zutiefst mit ihrer Fähigkeit, mitten auf der Alpweide im Plauderton Differential- und Integralgleichungen aufzustellen und diese auch gleich im Kopf zu lösen. Die meiste Zeit lief er hinter ihnen her und versuchte zu verstehen, worüber sie sprachen.
    Als sie am letzten Wochenende vor den Sommerferien zu einer Wanderung über den Urnerboden aufbrachen, schloss sich ihnen ein dänischer Doktorand an. Beim Würstebraten am Lagerfeuer machte der Däne sich über das veraltete Atommodell seines

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