Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer: Roman (German Edition)
philosophischen Erörterungen über den Grenzverlauf zwischen Original, Kopie, Reproduktion und Fälschung behelligte und sich auch nicht mit künstlerischen Skrupeln oder wissenschaftlichen Bedenken aufplusterte. Er tat einfach, wie man ihn hieß, alles andere ging ihn nichts an. Wenn Schliemann einen Kopf auf einer kopflosen Hermes-Statue haben wollte, so zeichnete er eben einen Kopf auf die Hermes-Statue, und wenn das Schiff auf der Vase einen Bug brauchte, zeichnete er einen Bug. Darüber hinaus waren ihm das Altertum und die Archäologie eher gleichgültig, wenn er auch die zutage geförderten Artefakte als das respektierte, was sie waren: bemerkenswerte Arbeitsproben ziemlich kompetenter Berufskollegen, die vor Jahrtausenden den Pinsel für immer beiseitegelegt hatten.
Was ihn viel mehr interessierte, waren die dreihundert französischen Francs, die er jeweils zum Monatsende erhielt, seine Flasche Rotwein nach Feierabend und das Gekicher der anatolischen Dorfmädchen, die im Schwarm hinter seinem Zeichentisch vorbeiflatterten.
Außerhalb der Grabungsfelder hatte er mit seinem Brotherrn wenig Kontakt. Wenn es im Sommer allzu heiß wurde und wenn die Herbststürme die ersten Regenwolken über die Ägäis trieben, kehrten sie nach Athen zurück. Im Winter unternahm Schliemann mit seiner jungen Gattin ausgedehnte Reisen nach Rom, Paris und London, während Emile Gilliéron Geld sparte, in seinem überheizten und doch unangenehm zugigen Hotelzimmer zurückblieb und sich bis zum Frühling langweilte, weil Athen noch keine richtige europäische Hauptstadt war, sondern einem verschlafenen osmanischen Provinzkaff glich.
Immerhin fand Gilliéron in der Fremde zu einem Seelenfrieden, den er zu Hause in Villeneuve vielleicht nie erlangt hätte. Er war glücklich darüber, dass die autochthonen Athener Bürger ihn bis ans Ende aller Zeiten als Ausländer betrachten und niemals als einen der Ihren aufnehmen würden; also würde er sich auch ihren Initiationsritualen nicht unterwerfen müssen, deren einziger Zweck es bekanntlich in allen Gesellschaften überall auf Welt war, die jungen Männer zu fesseln und zu knebeln. Da diese Gefahr nun gebannt war, fühlte sich Emile der Verpflichtung enthoben, blaue oder gelbe Jacken zur Empörung der Bürger tragen zu müssen. Auch musste er in Athen nicht die Notabeln vor den Kopf stoßen, sondern konnte ihnen mit derselben reservierten Höflichkeit begegnen, die sie umgekehrt auch ihm als beglaubigten Ausländer und anerkannten Künstler entgegenbrachten.
Alle paar Monate erpresste er von Schliemann eine Gehaltserhöhung, indem er seine unwiderrufliche Abreise ankündigte. Und wie jeder Emigrant schlug er, während die Zeit verging, im Exil gegen seinen Willen Wurzeln. Es begann damit, dass er aus dem »Hotel d’Angleterre« auszog, weil es auf Dauer zu teuer war. Er mietete eine schöne Wohnung mit Stukkatur an den Decken und einer angenehm schattigen Gartenterrasse, und er engagierte eine Haushälterin, die treu auf ihn wartete und ihm die Post hinterher schickte, wenn er mit Schliemann auf den Grabungsfeldern war. Er lernte Griechisch und schloss Freundschaften in der kleinen Bohème Athens, und allmählich erlangte er eine gewisse Berühmtheit auf dem diplomatischen Parkett der Hauptstadt als Schliemanns wichtigster Mann.
Und dann waren da die Frauen, die ihm samtene Blicke zuwarfen. Er war nun ein schöner, ungebundener Mann Anfang dreißig mit guten Manieren, und er hatte Geld in der Tasche. Im siebenten Jahr seines Aufenthalts lernte er eine italienische Kaufmannstochter namens Giuliana kennen, die ihn unbändig heiß küsste, ihm ewige Liebe schwor und ihn vom ersten Tag an mit leidenschaftlicher Eifersucht verfolgte. Das war eine ganz neue Erfahrung für Emile Gilliéron. Zu Hause im bedächtig-reformierten Villeneuve hatte er wohl zwei oder drei pragmatische Liebschaften gehabt, und als Kunststudent in Paris hatte er vom süßen Gift kapriziöser Kommilitoninnen gekostet, die unablässig von Liebe, Leidenschaft und Geschwisterseelen sprechen konnten, in ihren Herzen doch immer die kaltblütig-berechnenden französischen Bürgerstöchter blieben, die sie nun mal waren. Diese Giuliana hingegen gab sich ihm hin mit Haut und Haar und ließ keinen Zweifel daran, dass er ihr Abgott sei und sie treu die Seine bleiben werde bis ans Ende ihrer Tage. So viel mediterrane Leidenschaft weckte auch in Emile eine Begeisterung, die er zuvor nicht gekannt hatte, und so heirateten sie
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