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Der Faenger im Roggen - V3

Titel: Der Faenger im Roggen - V3 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J. D. Salinger
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hörte
    sogar, wie er unten aufschlug. Aber ich meinte, es sei nur irgend etwas aus dem Fenster
    gefallen, ein Radio oder ein Tisch oder was weiß ich, nicht ein Mensch oder so. Dann hörte ich
    alle durch die Gänge und die Treppe hinunterrennen und zog den Morgenrock an und rannte auch
    hinunter, und dort lag James Castle mitten auf der Steintreppe vor dem Haus. Er war tot, und
    alles war voll Blut, und seine Zähne lagen überall herum, und keiner wollte auch nur näher
    rangehen. Er hatte einen Pullover mit Rollkragen an, den ich ihm geliehen hatte. Die Schüler,
    die bei ihm im Zimmer gewesen waren, wurden nur relegiert. Sie kamen nicht einmal ins
    Gefängnis.
Etwas anderes fiel mir nicht ein. Die beiden Nonnen und dieser James Castle in Elkton Hills.
    Das Sonderbare daran ist, daß ich James Castle eigentlich kaum gekannt hatte, falls das
    jemanden interessiert. Er war sehr still. In der Mathematik ging er in die gleiche Klasse wie
    ich, aber er saß auf der andern Seite drüben und stand fast nie auf, um etwas zu sagen oder an
    die Wandtafel zu gehen.
Manche meldeten sich fast nie. Ich glaube, wir redeten zum erstenmal, als er mich fragte, ob
    ich ihm diesen Rollkragenpullover leihen wolle. Ich war so überrascht, daß ich fast in Ohnmacht
    fiel. Ich erinnere mich, daß ich mir im Waschraum gerade die Zähne putzte, als er mich das
    fragte. Er sagte, sein Cousin komme im Auto und wolle mit ihm ausfahren. Ich hätte gar nicht
    gedacht, daß er meinen Rollkragenpullover überhaupt beachtet hatte. Denn ich wußte von ihm
    eigentlich nur, daß sein Name immer direkt vor meinem im Alphabet kam. Gabel, R., Gabel, W,
    Castle, Caulfield - daran erinnere ich mich immer noch. Falls jemand die Wahrheit wissen will,
    ich hätte ihm beinah den Pullover nicht geliehen. Einfach nur, weil ich ihn kaum kannte.
»Was?« sagte ich zu Phoebe. Sie hatte irgend etwas zu mir gesagt, aber ich hatte nicht
    zugehört.
»Du kannst überhaupt nichts aufzählen?«
»Doch, das kann ich. Doch, das kann ich.«
»Gut, dann sag's.«
»Allie hab ich gern«, sagte ich. »Und was ich grade jetzt tue. Hier bei dir sitzen und reden
    und an alles mögliche denken und -
»Allie ist tot. Das sagst du ja immer. Wenn jemand tot ist und im Himmel und so, dann ist er
    nicht wirklich -«
»Natürlich ist er tot! Meinst du, ich wüßte das nicht? Aber ich kann ihn trotzdem gern haben!
    Nur weil jemand tot ist, hört man doch nicht einfach auf, ihn gern zu haben, du lieber Gott -
    besonders wenn einer tausendmal netter war als alle lebendigen Leute, die man kennt.«
Phoebe gab keine Antwort. Wenn ihr nichts einfällt, sagt sie kein einziges blödes Wort.
»Jedenfalls gefällt es mir jetzt«, sagte ich. »Ich meine jetzt grade. Hier bei dir zu sitzen
    und einfach zu schwätzen und Blödsinn-«
»Das ist nicht wirklich etwas!«
»Allerdings ist das wirklich etwas! Selbstverständlich! Warum zum Kuckuck denn nicht? Die Leute
    meinen immer, etwas sei nicht wirklich etwas. Das hab ich allmählich schon verdammt
    satt.«
»Hör auf zu fluchen. Also schön, sag etwas anderes. Sag etwas, was du gern sein möchtest. Wie
    ein Gelehrter. Oder ein Rechtsanwalt oder was.«
»Ich könnte kein Gelehrter werden. Für so etwas bin ich nicht begabt.«
»Schön, dann Rechtsanwalt - wie Dad und so.«
»Rechtsanwälte sind schon recht, vermutlich - aber mich lockt das nicht«, sagte ich. »Ich
    meine, sie sind mir recht, wenn sie unschuldigen Leuten das Leben retten, aber das tut man als
    Rechtsanwalt ja gar nicht. Man verdient nur einen Haufen Geld und spielt Golf und Bridge und
    kauft Autos und trinkt Martinis und sieht furchtbar bedeutend aus. Und außerdem - auch wenn man
    irgendwelchen Leuten das Leben retten würde, woher könnte man sicher wissen, ob man das getan
    hat, weil man ihnen wirklich das Leben retten wollte, oder ob man es tut, weil man nur ein
    fabelhafter Anwalt sein wollte, dem alle auf die Schulter klopfen und im Gerichtssaal
    gratulieren, wenn die verdammte Verhandlung vorbei ist - die Reporter und alle, so wie es in
    den elenden Filmen ist? Woher würde man wissen, daß man nicht nur ein Heuchler ist? Das
    Schlimme ist eben, daß man es nicht wüßte.«
Ich bin nicht ganz sicher, ob die gute Phoebe verstand, von was zum Teufel ich redete. Sie ist
    ja noch ein kleines Kind.
Aber wenigstens hörte sie zu. Wenn jemand wenigstens zuhört, ist alles weniger schlimm.
»Dad bringt dich um. Er bringt dich um!« sagte sie.
Ich hörte ihr aber nicht zu. Ich dachte

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