Der Fänger
musste sie das erleben. Der Albtraum war in die Realität eingedrungen, und sie hatte das Gefühl, nicht mehr sie selbst zu sein. Alles war so anders geworden. Die Welt um sie herum drehte sich, und sie konnte nur auf die beiden Klauen starren.
Seltsamerweise kam ihr nicht einmal der Gedanke, dass die Klauen unecht sein konnten. Das hier war nichts für Karneval, das war auch kein Partyspaß, um jemand zu erschrecken. Diese Klauen sahen so brutal echt aus.
Es war die echte Haut. Keine Hände aus Kunststoff oder Weichgummi. Und die langen Nägel waren echte Nägel, auch wenn deren Spitzen sie mehr an Messer erinnerten.
Wanda merkte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte. Vor Angst atmete sie schneller. Plötzlich wusste sie, weshalb man diesen Mann den Fänger nannte. Durch die Klauen hatte dieser Begriff eine besondere Bedeutung bekommen.
Er würde sie fangen, er würde zugreifen, und er würde kein Pardon kennen – denn er war ein Monster!
Oder war er doch noch ein Mensch?
Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, bis sie es schaffte, den Blick von den grünschuppigen Händen zu lösen und ihn weiter nach oben in das Gesicht zu richten, weil sie erfahren wollte, ob sich das auch verändert hatte.
Nein und ja!
Es war das gleiche Gesicht geblieben, aber der Ausdruck hatte sich verändert. Da bewegte sich nichts mehr. Die Starre glich einer Betonschicht, bis auf eine Ausnahme.
Es waren die Augen, die sich verändert hatten. Sie zeigten nicht mehr den gleichen Blick. Die Pupillen hatten die Farbe gewechselt. Sie waren jetzt dunkelgrün, und um sie herum hatte sich eine gelbe Farbe verteilt, als hätten die Augen dort das kalte Mondlicht eingefangen.
War das noch Igor Sartow?
Richtig glauben konnte sie es nicht. Er war ein Mensch, das stimmte schon, aber er stand zugleich auf einer anderen Stufe. Möglicherweise war er eine Mutation, die sich noch auf dem Weg vom Menschen zum Monster befand.
Wanda merkte nicht, dass die Zeit verrann. Vor Panik und Entsetzen bekam sie kaum noch mit, was um sie herum geschah. Mit einem Mal registrierte sie, dass ihre Hände nach unten gesunken waren.
Stierte er auf ihre Brüste?
Ihr gesamter Körper war von einer Gänsehaut bedeckt. Angstschauer folgte Angstschauer. Noch immer – obwohl sie es mit eigenen Augen sah – konnte sie nicht fassen, dass dies die Wahrheit war.
Das ist doch unmöglich!, durchfuhr es sie. »Das... das... bist du nicht – oder?«
»Doch, das bin ich.«
»Und jetzt?«
Ein kehliges Lachen strömte aus seinem Mund. »Jetzt habe ich dich, Wanda. Jetzt gehörst du mir. Das habe ich zwar schon immer so angesehen, es aber für mich behalten. Das ist nun vorbei. Wir müssen endlich zur Sache kommen.«
Wanda Rice bemühte sich vergeblich, einen dicken Kloß hinunterzuwürgen. Sie hatte alles gehört, und er hatte Recht wenig gesagt. Nur reichte ihr das Wenige aus, um zu wissen, was ihr bevorstand.
»Aber was habe ich denn getan?«, flüsterte sie. »Was habe ich denn falsch gemacht?«
»Du hast alles richtig gemacht. Oder fast...«
»Wieso?«
»Es lief gut. Wir hätten so weitermachen können. Die Frauen waren wichtig. Ihre Organe waren perfekt. Sehr gesund. Gesünder hätten sie gar nicht sein können.«
»Bitte?«, schrie sie.
»Ja, ich...«
Plötzlich vergaß Wanda ihr eigenes Schicksal. Etwas anderes war viel wichtiger geworden. Natürlich wusste sie, dass den toten Mädchen die Organe entnommen worden waren. Darüber war sie zwar entsetzt gewesen, aber sie hatte diese Tatsachen nicht mit Igor Sartow in Verbindung gebracht. Wie hätte sie auch darauf kommen sollen.
Wanda Rice schnappte nach Luft und flüsterte: »Du... du... hast... du bist... ich meine, du hast sie getötet?«
Igor lachte. »Nein, das habe ich nicht. Wie kommst du darauf?«
»Du kennst dich aus!«
Jetzt grinste er wissend. »Und wie ich mich auskenne. Das muss auch so sein. Ich habe die Vorbereitungen getroffen. Ich war der Lenker, aber zugeschlagen hat jemand anderer.«
»Die Frauen getötet?«
»Was sonst?«
»Du kennst ihn?«
Der Fänger nickte.
»Wer ist es?«
Igor lächelte erneut. »Willst du das wirklich wissen?« Er breitete seine Klauen aus. »Wen ich dir das sage, bist du eine Mitwisserin geworden, und du kannst dir denken, dass ich Mitwisser nicht vertragen kann.«
»Nein, in dem Fall...«
Er unterbrach Wanda mit einer Handbewegung. »Ich werde es dir sagen. Es ist ein Partner von mir. Ein Arzt. Der Chef einer kleinen privaten Klinik. Er heißt
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