Der Faktor X
weil er nicht wußte, wohin er sonst gehen sollte, hinaus in das Treppenhaus, um über die Wendeltreppe hinauf zu seinem Obdach von der Nacht zuvor zu klettern. Unten lag Xcothal, aber diesmal verspürte er kein Verlangen, seine Ruinen zu betrachten. Er hatte Angst vor dem, was er in den Straßen vielleicht sehen würde.
Wie jemand, dessen Schmerzen nicht nachlassen wollen, schwankte er vor und zurück und hielt die Arme dabei über seinem Bauch verschränkt.
»Was wollt ihr von mir?« Das war kein Schrei, nur ein verzweifeltes Flüstern, aber er wiederholte es immer wieder, bis seine Stimme versagte.
Er schlief nicht; er konnte nicht schlafen. Das Gefühl der Gefahr verstärkte sich. Keine Mutprobe war härter zu bestehen. In der Dunkelheit saß Diskan da und kämpfte gegen seine unsägliche Angst an – aber er hatte so wenig, mit dem er kämpfen konnte! Dann kam die Stunde, als Diskan, weil er mit seiner eigenen Angst einfach nicht länger leben konnte, auf Händen und Knien über den kalten Stein nach vorne kroch, um hinunterzuschauen auf die Stadt, in die Grube, aus der der Terror aufstieg.
So dunkel, wie er es sich nicht hätte vorstellen können – und doch, je länger er hinunterstarrte, desto mehr erkannte er, daß es verschiedene Grade der Dunkelheit gab, auf eine Art, die er einfach nicht beschreiben konnte. Da war auch ein Fließen, ein Hin- und Herwogen – undefinierbar – ein Leben, das nicht sein Leben war und auch nicht das Leben des Unbekannten, das in dem Saal die Muster gewoben hatte. Das war etwas, das ungebeten eingedrungen war, das sich mit den verfallenen Mauern verband, um zu bleiben, es sei denn, das was einst war, kehrte wieder.
Das was einst war! Xcothal …
»Es ist vergangen …«
»Vergangen! Vergangen!« Vielleicht war es ein Echo, das sein Wort wiederholte. Das Wabern des Dunklen wurde stärker, reichte weiter, höher an das Gebäude heran. Diskan zwang sich, weiter zu beobachten. Sein Körper schauderte, und seine Fingernägel gruben sich tiefer ins Fleisch. Er war sich des kleinen Schmerzes nicht bewußt, denn ein viel größerer erfüllte ihn.
Xcothal – er klammerte sich an seinen Traum, mühte sich, das Wogen der Finsternis mit all der Farbe, dem Leben, der Schönheit zu vertreiben, die es verhüllte und begrub. Xcothal durfte nicht genommen werden! Das, was hier gewohnt hatte, konnte nicht so leicht verbannt werden. Diskan starrte in die Nacht und kämpfte – warf alle Logik, alle Vernunft beiseite.
Er wußte nur, daß er durch die Belebung seines Traumes und das Festhalten an ihm seinen kleinen Einsatz in die Schlacht warf, und er blieb verbissen auf seinem Posten. Er wußte nicht, wann er das erste Leuchten eines Lichtblitzes entdeckte, einen nadeldünnen Punkt in den Straßen. Aber nun kamen mehr und mehr – winzige Funken, deren Herkunft er nicht erraten konnte. Sie folgten keinem bestimmten Muster – hier ein paar, dort eine Ansammlung, eine Reihe einzelner Punkte hier, dort ein massiver Strahl inmitten des Dunklen.
Sie bewegten sich nicht wie die wirbelnden Fetzen des Dunklen, sondern blieben ruhig auf ihrem Posten. Nach einer Weile erschienen keine mehr. Diskans Hände entkrampften sich. Auf Händen und Knien kroch er zurück an die Wand. Er wollte nicht schlafen; er brauchte jetzt keinen Schlaf. Die Nacht barg plötzlich eine prickelnde Wärme, und Leben, wie er es nie zuvor erfahren hatte, durchrann all seine Adern, so daß er mit ungeduldigen Fingern die obersten Knöpfe seines Parkas öffnete.
Irgend etwas war geschehen, als sei eine Maschine, die lange stillgestanden hatte, plötzlich wieder in Bewegung gesetzt worden, und nun sandte sie ihre Wellen aus – weiter und weiter …
War es das, was sie von ihm gewollt hatten, die Brüder im Pelz? Nein, die Antwort folgte seiner Frage auf dem Fuße, und er wußte, daß es die Wahrheit war. Damals hatte er versagt, aber jetzt …
Diskan beachtete das Instrument nicht, das an seinem Gürtel hing. Die Nadel zitterte, wanderte hin und her; das Klicken war zu einem beständigen Schnurren geworden, aber es erreichte seine tauben Ohren nicht. Alles, was für ihn jetzt Wirklichkeit war, lag dort draußen in der Nacht, regte und bewegte sich. Und diesmal – diesmal ganz bestimmt – würde er begreifen, was es war!
10
Ein Vibrieren in der Luft, durch seinen Körper, übertragen durch den Stein auf dem er kauerte. Ein Wink? Danach ein Beben, als mühe sich jeder einzelne Stein um eine Antwort, könne
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