Der Falke des Nordens
als sich an seinen kräftigen Körper zu lehnen, während sie in die Nacht hineinritten.
Hoffentlich handelt mein Vater rasch, überlegte Joanna. Sie zweifelte nicht daran, dass er alle Hebel in Bewegung setzen würde, um sie hier herauszuholen.
Sie hatte die Begrüßung mit den brennenden Fackeln für eine Art Zeremonie gehalten. Es war schön und auch beeindruckend gewesen, wie sie insgeheim widerstrebend zugeben musste. Allerdings konnte sie sich nicht vorstellen, dass ein Mann, der sogar ein Privatflugzeug besaß, auf dem Rücken eines Pferdes durch sein Land reiste.
Doch nachdem sie nun bereits länger als eine Stunde unterwegs waren, änderte sie ihre Meinung. Ein Ritt durch eine so unwirtliche Gegend hatte nichts Zeremonielles mehr an sich. Von dem ständigen Auf und Ab im Sattel tat ihr alles weh, sodass sie gar nicht mehr wusste, wie sie sitzen sollte.
Immer weiter ritten sie ins Gebirge hinein. Der Mond hüllte die Landschaft in ein bleiches elfenbeinfarbenes Licht, und die Kronen der Föhren und Pinien an den Hängen schimmerten silbrig.
Joanna überlegte, wie lange sie wohl noch unterwegs sein würden. Sie konnte sich kaum vorstellen, dass ihr Vater eine Chance hatte, sie in dieser Abgeschiedenheit zu finden, und beschloss, vorerst nicht darüber nachzudenken.
Sie war müde und erschöpft. Die gleichmäßigen Bewegungen des Pferds und die leise klingenden Glöckchen an seinen Zügeln wirkten geradezu hypnotisierend und einschläfernd. Sie gähnte und versuchte krampfhaft, die Augen offenzuhalten. Doch plötzlich sank ihr der Kopf nach hinten, und sie spürte etwas Festes, Warmes an ihrer Wange, was sie erschrocken auffahren ließ.
“Joanna, sind Sie müde?” Khalil berührte leicht ihre Wange. “Lehnen Sie den Kopf an meine Schulter, und schlafen Sie ein wenig.”
“Ich bin aber nicht müde.”
Er lachte auf. “Tun Sie einfach, was ich sage, und schließen Sie die Augen.”
“Bitte, sparen Sie sich die Mühe, sich meinetwegen besorgt zu zeigen, das nehme ich Ihnen sowieso nicht ab.”
Khalil seufzte. “Wie Sie wollen, Joanna.”
Nun versuchte sie beharrlich, sich wach zu halten, und redete sich immer wieder gut zu, um nicht einzuschlafen. Sie lenkte sich ab, indem sie dem Säuseln des Winds in den Bäumen und dem Klappern der Hufe lauschte und den Duft der Pinien tief einatmete.
“Verdammt, Sie sind so dickköpfig wie die wilden Pferde von Chamoulya! Seien Sie doch nicht so albern, und ruhen Sie sich etwas aus.”
“Mir fehlt nichts, und ich brauche nichts, am allerwenigsten Ihren Rat und Ihre Hilfe.”
“Gut, ich werde daran denken.” Und dann zog er sie doch an seine Schulter. “Jetzt halten Sie erst einmal den Mund, und hören Sie auf zu zappeln. Sie machen Najib ganz nervös.”
“Najib?”
“Den Hengst. Bei dem steilen Anstieg, den wir noch vor uns haben, darf er unter keinen Umständen unruhig werden.”
“Wahrscheinlich hat er recht”, dachte sie. Man sollte das Pferd auf so einem schmalen Pfad nicht unnötig aufregen. Obwohl ihr die Lider zufielen, wehrte sie sich immer noch gegen den Schlaf, denn sie wollte unbedingt nachdenken – am besten über die kühle Nachtluft und Khalils warme Arme, mit denen er sie umfing, und darüber, wie weich sich sein Gewand an ihrer Haut anfühlte und wie hart seine Oberschenkel an ihren Hüften.
Plötzlich jagten ihr heiße und kalte Schauer über den Rücken. Entsetzt machte sie die Augen auf und bewegte sich so ungeschickt, dass sie beinah das Gleichgewicht verloren hätte und sich am Sattelknopf festhalten musste. Sogleich schnaubte Najib wütend und warf den Kopf wild hin und her, während Khalil sie wieder an sich zog.
“Verdammt!”, stieß er angespannt hervor. “Ich habe Sie doch gewarnt, das Pferd nervös zu machen!”
“Ja, ich weiß”, erwiderte sie bissig. “Ehrlich gesagt, es ist mir ziemlich egal, ob der Hengst unruhig wird oder …” Doch plötzlich schrie sie leise auf vor Schreck. Denn der Pfad, den sie jetzt entlangritten, war nicht viel breiter als eine Hand, und direkt neben ihnen ging es steil in die Tiefe.
“Genau, das meine ich”, sagte Khalil verärgert.
Rasch blickte Joanna zur anderen Seite, um nicht mehr in den Abgrund sehen zu müssen.
“Najib ist sehr trittsicher, Joanna. Aber es ist trotzdem besser, ihn nicht abzulenken.”
“Das … geht in Ordnung. Erklären Sie ihm bitte, dass er mich einfach ignorieren soll, bitte”, antwortete sie unbehaglich.
“Ja, okay. Aber warum
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