Der Falke des Nordens
…”
Rachelle drehte sich kurz um und blickte Joanna abweisend an. “Ich komme bald wieder”, erwiderte sie nur, öffnete die Tür und verschwand.
Sekundenlang blieb Joanna auf der Bettkante sitzen und machte ihrem Herzen Luft, indem sie leise vor sich hin fluchte.
Schließlich sah sie sich in dem Zimmer um. “Es ist ja ganz nett”, gab sie insgeheim widerstrebend zu. Der Fliesenboden, die Intarsienmöbel und die weiß getünchten Wände, die mit wunderschönen alten Perserteppichen geschmückt waren, schufen eine freundliche, behagliche Atmosphäre. Trotzdem empfand Joanna es als eine Art Gefängnis.
Sie stand auf, schob mit den bloßen Füßen die Schuhe zur Seite, wobei sie sich zu allem Überfluss den großen Zeh wehtat, schlenderte ins angrenzende Badezimmer und war angenehm überrascht. Es war einschließlich der Wände gekachelt, und in einer Ecke hatte man sogar eine Duschkabine installiert. Das heiße Wasser der in den Boden eingelassenen Badewanne dampfte noch, und schwerer Rosenölduft erfüllte die Luft.
Seine Hoheit schätzt wohl die feine Lebensart, fuhr es Joanna durch den Kopf, während sie die feine Seidenunterwäsche auszog und aufs Schränkchen neben ihr legte. Dann warf sie einen Blick in die Badewanne und entschloss sich, doch lieber zu duschen.
Die ganze Situation kam ihr unwirklich vor, wie eine einzige Verrücktheit. Ja, das trifft den Nagel auf den Kopf, überlegte sie, während sie sich das wohlig warme Wasser über den Körper strömen ließ. Nachdem sie geduscht und sich abgetrocknet hatte, griff sie nach ihrer Unterwäsche. Plötzlich hielt sie in der Bewegung inne, denn sie hatte in den Seidendessous geschlafen, statt Rachelle um einen Pyjama oder ein Nachthemd zu bitten. Deshalb war das kostbare Hemdchen so zerknittert, dass sie nun keine große Lust hatte, es überzuziehen. Genauso wenig behagte es ihr, das grüne Seidenkleid zu tragen, das auf dem Stuhl im Schlafzimmer lag. Aber schließlich hatte sie keine andere Wahl.
Während sie sich ein Handtuch um den Körper wickelte und ins Zimmer zurückging, beschloss sie, auf das Unterhemd zu verzichten, der Slip aus Seide musste genügen …
Unvermittelt stieß sie einen Schrei aus – Khalil stand am Fenster, mit dem Rücken zu ihr. “Was soll das?”, fuhr sie ihn ungehalten an.
Langsam drehte Khalil sich um und schaute sie an. Rachelle hatte ihm berichtet, der Frau ein Bad bereitet zu haben, und irgendwie hatte er angenommen, Joanna würde danach unschuldig, strahlend und wunderschön aussehen, deshalb war er jetzt ein wenig enttäuscht. Nein, das stimmt nicht, sie ist doch schön, sogar viel schöner als mit dem Make-up und den Juwelen, mit denen sie sich geschmückt hatte, überlegte er. Und auf einmal spürte er grenzenloses Verlangen.
“Was haben Sie in meinem Zimmer zu suchen?”
Er zog leicht die dunklen Augenbrauen hoch. “Rachelle sagte mir, dass sie wach seien.”
“Berechtigt Sie das, einfach hier hereinzuplatzen?”
“Ich habe angeklopft, aber Sie haben es nicht gehört.”
“Ich war unter der Dusche!”
Er lehnte sich lässig gegen die Wand und musterte Joanna von oben bis unten. “Das sehe ich!”
Joanna errötete. Sie hatte das Gefühl, er würde sie mit den Blicken ausziehen, und ihr war ziemlich unbehaglich zumute. Sie hatte große Lust, sich ins Badezimmer zurückzuziehen oder sich in die Bettdecke einzuhüllen. Aber eine solche Genugtuung wollte sie ihm dann doch nicht verschaffen.
“Es dürfte für Sie unschwer zu erkennen sein, dass ich keinen Besuch erwartet habe”, meinte sie frostig.
“Rachelle hat mich informiert. Sie seien mit ihr unzufrieden. Sie ist noch sehr jung und sensibel und …”
“Verstehe ich Sie richtig? Sie dringen ungebeten hier ein, nur weil ich angeblich Rachelles Gefühle verletzt habe?” Joanna lachte auf. “Sie müssen schon entschuldigen, Euer Gnaden …”
“Das ist der falsche Titel.”
“Wenn Sie glauben, ich würde Sie wegen Ihrer kleinen Sklavin um Vergebung bitten, dann können Sie lange warten!”
“Wir halten keine Sklaven.” Khalils Blick wurde ausgesprochen kühl.
“Natürlich nicht, hätte ich mir auch denken können. Die Menschen hier sind alle glücklich und zufrieden. Nur im Süden von Jandara, im Herrschaftsbereich des bösen Abu AI Zouad, hält man noch Sklaven”, säuselte sie honigsüß.
Er kniff die Augen zusammen. Die Frau benahm sich unmöglich! Wie konnte sie es wagen, so respektlos mit ihm zu reden? Und dann war sie noch
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