Der Falke von Aryn
weiß nicht, was die Wahrheit ist, selbst wenn sie ihn in die Hose beißt«, sagte Raban grimmig. »Es ist alles erstunken und erlogen.«
»Aber es ist möglich«, sagte Raphanael leise. »Die Wahrheit und auch die Beweise müssten sich in den Kirchenbüchern und in den Archiven des Palasts finden lassen.« Er sah zu Lorentha hin. Ihre Mutter hatte in den alten Unterlagen etwas nachsehen wollen, konnte es tatsächlich mit all dem zusammenhängen?
Doch Raban sprach schon weiter. »Vielleicht finden sich in den Archiven noch Beweise, aber in dem Gerücht geht es um etwas anderes.«
»Und was?«, fragte Lorentha.
»Der wahre Erbe würde das Zeichen der Göttin dadurch zeigen, dass er den Falken von Aryn rufen könne und der dann auf seiner Schulter landen würde.«
»Jeder kann einen Falken dressieren«, meinte Raphanael abfällig. »Das ist kein Beweis.«
»Doch«, sagte Raban leise. »Dieser wäre einer. Denn der Falke, der dem Ruf folgen würde, wäre kein gewöhnlicher Vogel, sondern derselbe, der schon einmal Aryns Schicksal besiegelt hat.«
»Der Falke, der die Priesterin vor dem Angriff warnte?«, fragte Lorentha, doch Raban schüttelte den Kopf.
»Nein. Anscheinend glaubt Visal tatsächlich, der goldene Falke der Göttin würde zu ihm geflogen kommen und auf diese Weise nicht nur beweisen, dass er der Erbe ist, sondern auch, dass die Göttin selbst seinen Anspruch segnet.«
Einen Moment lang sahen die drei sich gegenseitig an, dann schüttelte Raphanael den Kopf. »Das ist unmöglich.«
»So sehe ich das ebenfalls«, sagte Raban. »Es muss ein Trick dabei sein. Aber wenn der Trick gelingt und Visal die Leute derart täuschen kann, würde sich jeder hier in der Stadt erheben. Wenn die Göttin es durch ein solches Wunder bestätigt, sähen es die meisten sogar als Gottesdienst und würden für eine so gerechte Sache bis in den Tod kämpfen. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde sogar ich mich ihnen anschließen.«
»Es sind zweihundert Marineinfanteristen in der Stadt stationiert«, sagte Lorentha leise. »Damals waren es hundert, die den Aufstand niederschlugen.«
»Aber wenn die ganze Stadt geschlossen aufbegehrt, dann sind auch zweihundert zu wenig. Selbst wenn sie in ihrem eigenen Blut ertrinken würden, wenn es der Wille der Göttin ist, würden sich die Leute mit bloßen Händen auf die Marinesoldaten stürzen.«
»Tatsächlich würde es die Verluste sogar reduzieren, griffe man ohne Zögern und geschlossen an«, meinte Lorentha nachdenklich. »Graf Mergton hätte keine andere Wahl, als die Stadt zu übergeben … womit dann Tatsachen geschaffen wären.« Sie schüttelte entschieden den Kopf. »Das kann ich nicht zulassen. Also verhafte ich besser Valkin noch heute Nacht. Bis morgen früh habe ich ihn schon baumeln. Was er tut, ist Hochverrat.«
»Nicht, wenn er der Erbe ist«, sagte Raphanael, und sie schaute ungläubig zu ihm hinüber.
»Das meinst du nicht ernst.«
»Doch«, sagte Raphanael gequält. »Wenn es stimmt, ist er kein Verräter. Warte«, bat er sie, als er sah, wie sich ihre Augen zusammenzogen, »bedenke, wie es auf alle anderen wirkt, wenn du ihn jetzt in Ketten schlägt oder ihn gar hängst.«
»Er würde auf das Schwert bestehen«, warf Raban hilfreich ein, was ihm von den beiden anderen einen bösen Blick einbrachte.
»Denk nach, Lorentha«, bat Raphanael sie eindringlich. »Selbst wenn du ihn morgen früh baumeln lässt, machst du ihn doch zu einem Helden, schlimmer noch, zu jemandem, der dafür gestorben ist, der Tyrannei des Kaiserreichs die Stirn zu bieten und nur zu fordern, was von Rechts wegen ihm gehören müsste und ihm einst gestohlen wurde. Es käme zwar nicht zu diesem Wunder, aber ob es den Aufstand vermeidet, ist nicht sicher. Wenn er dann doch käme, wäre er nur ungleich blutiger.«
Lorentha musterte ihn misstrauisch. Er konnte fast sehen, was sie dachte. Er war Manvare, wie objektiv war da sein Rat?
»Visal hofft auch auf die Gebiete des Herzogtums«, sagte er ruhig. »Manvare hat dabei ebenfalls zu verlieren. Aber wir brauchen nichts zu überstürzen, bis zur Prozession sind es noch mehr als drei Wochen.«
Beide sahen sich gegenseitig an. »Was ist wichtiger?«, fragte sie dann. »Serrik zu fassen oder den Beweis zu suchen?«
»Serrik«, sagte Raphanael, ohne zu zögern. »Anschließend können wir zum Tempel gehen und meine Schwester fragen, ob sie uns Zugang zu den Tempelarchiven gewährt, ich weiß, dass sie wegen der Weihe morgen heute
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