Der Falke von Aryn
mehr, als ein Mensch tragen sollte. Aber ich weiß, wer der wahre Erbe ist. Ich weiß auch, dass es der Wille der Göttin ist, dass Aryn nicht an Visal fallen soll. Die Göttin zeigte mir den Weg dazu.«
Sie sagte es mit so schlichter Überzeugung, dass Lorentha nicht wusste, was sie darauf antworten sollte. Sie trank einen Schluck von dem Wein, der zur Unkenntlichkeit verwässert war, und schüttelte den Kopf.
»Ihr macht es damit nur noch schlimmer«, sagte sie dann und wies müde auf Raphanael. »Wir unterhielten uns vorhin. Er hat recht, in Aryn geht es den Menschen besser als an vielen Orten, was auch mit an eurem Glauben liegt. Lassen wir es dabei. Verhindern wir diesen Aufstand, legen Visal das Handwerk, und sorgen wir dafür, dass der goldene Falke durch die Straßen getragen wird.« Sie schaute zu Larmeth hinüber. »Es war klug von Eurer Vorgängerin, mit dem Falken so zu verfahren. Ich nehme an, er stand einst auf dem Altar, ihn auf die Hand der Göttin zu versetzen oder ihn in eine Kiste zu packen, die weit weg in einem Lager steht, hat verhindert, dass der Falke sich regt. Auch wenn es niemals einen Erben gab.«
»Das stimmt so nicht«, sagte Raphanael leise und sah sie fast schon traurig an. »Weißt du, warum deine Mutter hier auf dem Tempelplatz war?«
»Sie wollte sich hier mit jemandem treffen«, sagte Lorentha mit belegter Stimme, denn die Erinnerung an diesen letzten Moment war noch zu frisch in ihr, auch wenn über zwanzig Jahre vergangen waren. »Sie wusste nicht, dass er sie ermorden würde.«
»Nein«, sagte Raphanael sanft. »Warum traf sie sich hier mit ihm?« Er nickte, als er sah, wie sich Lorenthas Augen weiteten. »Du bist nicht der erste Erbe, vor dir erfüllte deine Mutter die gleichen Bedingungen. Wäre sie vor den Falken getreten, er hätte sie ebenfalls jubelnd begrüßt. Vielleicht geschah genau das ja, und es war der Grund, weshalb deine Mutter sterben musste.« Er atmete tief durch. »Bevor man nur auf den Gedanken kommt, eine Walküre ermorden zu wollen, muss man schon verzweifelt sein. Oder es steht so viel auf dem Spiel, dass man es wagen muss.«
Larmeth schüttelte langsam den Kopf. »Ich glaube nicht, dass die Baroness jemals den Falken sah«, meinte sie dann. »Ich habe nachgesehen, ob irgendetwas Ungewöhnliches für die Mordnacht in den Archiven vermerkt wurde, doch nur der Mord selbst wird erwähnt, ansonsten ist in den Tagen zuvor nichts Ungewöhnliches geschehen.« Sie lächelte schwach. »Wir haben es ja selbst gesehen, hätte der Falke ihre Mutter so begrüßt, wäre es allen in Erinnerung geblieben.«
»Und doch hat Raphanael in einem recht«, sagte Lorentha rau, die sich an den Streifen Pergament erinnerte, den sie von der Gräfin erhalten hatte. »Meine Mutter kannte das Geheimnis, ich bin mir dessen sicher. Vielleicht kannte sie es sogar schon immer. Ich kann mir vorstellen, dass sie es überprüfen wollte. Es könnte auch erklären, warum sie mich mitnahm, es wäre für ein Kind ein unvergessliches Erlebnis gewesen, zu sehen, wie dieser Falke sie begrüßt. Nur wurde sie ermordet, bevor es dazu kam.« Sie sah die beiden anderen eindringlich an. »Sie hätte es wissen wollen, doch ich sage Euch, auch sie hätte nicht anders entschieden als ich.« Sie sah die beiden entschlossen an. »Es ist mein Erbe, und ich verzichte. Es wird keinen Aufstand geben, ich will nicht das Blut Hunderter an meinen Fingern kleben haben. Wir können Visal stoppen, er hat den falschen Falken, und wenn die Hohepriesterin der Isaeth vor ihn tritt und den wahren Falken zeigt und verkündet, dass es eben nicht der Wille der Göttin ist, dass Visal nach der Herzogskrone greift, dann wird man es ihr glauben!«
»Don Amos«, rief Raphanael plötzlich. » Das ist der Grund, weshalb er hier ist.«
Beide Frauen schauten ihn überrascht an.
»Er verfügt über das Talent, Unbelebtes zu bewegen«, erklärte er aufgeregt. »Du erinnerst dich an diesen letzten Felsbrocken, den er auf mich warf? Der dürfte weit schwerer gewesen sein als dieser goldene Falke! Das ist das Wunder, mit dem Visal die Menschen überzeugen will, der goldene Falke, wie er auf die Schulter des wahren Erben fliegt!«
»Welcher Felsbrocken?«, fragte seine Schwester verwirrt, doch er beachtete sie nicht.
»Du hattest in einem anderen recht, Lorentha«, sagte er. »Wir müssen dem Feind nur einen Stein aus seinem Spiel nehmen, aber nicht Visal, sondern Don Amos. Ohne ihn und seine Magie, Gegenstände zu bewegen,
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