Der Falke von Aryn
einer Decke stecken musste, nur so ergab dies alles einen Sinn. Der ganze Mummenschanz, all das Getue … es musste ebenfalls damit zusammenhängen.
»Wo wollen diese ganzen Menschen hin?«, fragte Raphanael und wies auf die Menschen die sich durch die Tore drängten. Es waren Bauern aus dem Umland, Freie, Unfreie, Knechte, alle Stände und hier und da auch ein feiner Herr.
»Zum Tempelplatz, Eure Lordschaft«, erklärte die Wache. »Herzog Visal hat angekündigt, dass er dort durch ein göttliches Wunder den letzten Beweis erbringen will, dass nach weltlichem und göttlichem Recht das Herzogtum Aryn ihm gehört, und dass es der Wille von Isaeth ist, dass er die Herzogskrone tragen soll.«
Einer der anderen nickte. »Wir wären gern da, aber der Herzog ließ Boten senden und erinnerte uns an unsere Pflicht, hier die Ruhe zu wahren, bevor noch im Überschwang der Gefühle irgendetwas geschieht! Könnt Ihr Euch das vorstellen?«, sagte er und schüttelte ungläubig und glücklich den Kopf. »Nach zwei Jahrhunderten sind wir endlich frei von der Tyrannei des Kaisers!«
Ja, dachte Lorentha bitter. Und wenn es Visal gelang, sein Spiel bis zum Ende durchzubringen, dann würde es bald heißen, dass der Kaiser die Stadt bis aufs Blut ausgequetscht und versklavt hätte.
Sie erinnerte sich an die Vision am Altar des Tempels, an diesen jungen Mann, den Prinzen Pladis. Kaum ein gekröntes Haupt war imstande, die Ehe aus Liebe einzugehen, und auch er hatte seinem Vater deshalb trotzen müssen. Und doch war es bei Armeth und Pladis so gewesen. Sie war dabei gewesen, hatte ihn gesehen, hatte die Verträge studiert, die weit mehr als großzügig gefasst waren. Sie wusste, was danach geschehen war, kannte das Geheimnis der Schwermut, die den Kaiser den Rest seines Lebens plagte. Die Bruderschaft hatte mehr als nur das Leben einer jungen Frau genommen, sie hatte das Schicksal zweier Reiche umgeformt. Die Franken hatten eine Reihe großer Kaiser hervorgebracht, doch mit Pladis hatte auch seine Dynastie ein Ende gefunden. Heute trug Heinrich die Krone, Albrechts älterer Bruder, ein überlegter, ruhiger Mann, der vieles so genau bedachte, dass er manchen als unentschlossen galt. Kein schlechter Kaiser, dachte sie, aber Pladis wäre ein großer Kaiser gewesen, einer von denen, auf deren Legende das Frankenreich ruhte, ein Kaiser, den man hätte lieben können. So aber war er verbittert und ohne Erben in die Geschichte eingegangen, seine einzige Hinterlassenschaft war nur, dass die kaiserliche Fahne über Aryn wehte. Wenigstens bis jetzt.
Bei all den Bevorzugungen und Sonderrechten dieser Stadt von Tyrannei zu sprechen, empörte sie, doch der Mann wusste es nicht besser.
Lorentha und Raphanael tauschten einen Blick und trieben ihre Pferde an. Doch zwei Straßen weiter mussten sie sie zügeln, heute schien jedermann unterwegs zu sein, und die Menschen drängten sich dicht an dicht, sodass nicht daran zu denken war, schnell zu reiten.
Zähneknirschend gaben sie es auf. Auch wenn sie die Pferde nicht laufen lassen konnten, kamen sie doch ein wenig schneller voran, da man den Tieren auswich, und so sahen sie wenigstens, wohin es ging. Die ganze lange, gewundene Straße hoch zum Tempelplatz, wo sich Aryns Schicksal erneut entscheiden sollte.
Lorentha fühlte die Zeit im Stundenglas verrinnen. Sosehr sie sich auch mühten, sie kamen nicht schneller voran, in den Gassen war es noch schwieriger … sie mussten es erdulden, hoffen, dass sie noch rechtzeitig kamen.
Nur, was dann?
Wie sollten sie sich Visal und Don Amos entgegenstellen? Dass sie Garda war und für kaiserliches Recht stand, zählte nichts, der Graf hatte die Stadt bereits aufgegeben, und was sollte Raphanael tun? Sein Eid band ihn, und käme es zu einem Kampf, müssten Unschuldige leiden. Sie hatten längst verloren, dachte Lorentha grimmig, und auch Raphanaels steinerne Miene verriet, dass er genauso dachte. Nur mussten sie es noch versuchen. Auch falls es letztlich dazu führen sollte, dass sie hilflos mitansehen mussten, wie eine ganze Stadt verraten wurde.
Da Raban und der Todeshändler keine Zeit mit einer alten Kutsche verloren hatten, war es für sie leichter gewesen. Noch waren nicht derart viele Menschen auf den Straßen; so kamen sie rechtzeitig, um zu sehen, wie auf einem reich geschmückten Wagen der goldene Falke in einer umgekehrten Prozession hinauf zum Tempelplatz gefahren wurde.
Gut vierzig harte Männer, in Uniformen von Blau und Gelb, den Farben der
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