Der Falke von Aryn
nieder, würde es für ihn schmerzhaft werden, aber niemand würde seinen Anspruch noch bezweifeln. Gegen die goldenen Krallen hatte Visal unter seinem kostbaren Wams ein Kettenstück und eine Platte angebracht, also sollte jetzt nichts mehr passieren.
Zorn. Strafe. Gerechtigkeit.
42 In ihrem Tempel, wo Raphanaels Schwester im Gebet vor dem Altar kniete, auf dem noch immer der echte Falke stand, sah die Hohepriesterin der Isaeth es ein wenig anders. Einen Segen zu erhalten, war das eine, ihn zu fordern, gar zu erschleichen, etwas anderes.
Nicht nur die Orden hüteten Geheimnisse, wussten, wie man Wunder wirkte. So machtvoll, wie die Orden auch waren, folgten sie weltlichem Geschick.
Das war das eine, das Don Amos übersehen hatte: Wahre Wunder waren nur dem Göttlichen gegeben.
Larmeth wusste, was sie tat, ihr Amt hatte sie zur Stellvertreterin der Göttin auf dieser Welt bestellt. Auch wenn viele nicht mehr an die direkte Macht der Götter glaubten, sie schritten ja nicht mehr über die Welt und warfen ihre Blitze, so wusste Larmeth es doch besser.
Ihr ganzes Leben hatte sie der Göttin schon gedient, seitdem sie als Kind staunend diesen Tempel betreten hatte, für sie war es Bestimmung, Berufung, Wunsch und Glück zugleich. Sie war der Arm der Göttin in dieser Welt, Wille, Schwert und Schild des Göttlichen, und in den heiligen Archiven lag der Weg verborgen, wie sie die Göttin rufen konnte.
Sie hatte das Ritual schon am frühen Morgen begonnen, sich von der Welt gereinigt, sich losgelöst, in tiefer Meditation auf das Göttliche besonnen … nur um von einem aufgeregten Boten zu erfahren, was Arin widerfahren war.
Sie hörte auch, wie ihre Priester davon tuschelten, wie der Graf die Stadt verriet, wusste, dass Don Amos und Visal in der Stadt gesehen wurden, wie sie ihren Bruder und die Majorin mit dem Blut des Kindes getäuscht hatten.
Obwohl die Lehren der Göttin ihr anderes geboten, war Larmeth, die Arins blasse Hand selbst gesehen und berührt hatte, jetzt von einem Zorn erfüllt, der all das zunichtemachte, was sie in den Jahren gelernt hatte.
Einen letzten Schritt, eine letzte Phase der Besinnung hätte es noch gebraucht, dann wäre sie so weit gewesen, imstande, ihre irdische Hülle aufzugeben, um dem göttlichen Willen einen Weg in diese Welt zu öffnen. Ihre Priester standen schon bereit, beteten mit ihr, warteten im Tempelschiff darauf, dass sie die Göttin selbst in der sterblichen Hülle ihrer höchsten Priesterin begrüßen konnten. Jeder, der hier stand und mit Larmeth betete, hätte sein Leben geopfert, um der Göttin einen Weg in diese Welt zu geben, doch es war Larmeths Wahl, ihr Schicksal … und sie vermochte es nicht zu tun.
Das Ritual forderte Gelassenheit und Ruhe von ihr, Ergebenheit dem Schicksal gegenüber, und nicht einen unheiligen Zorn und diesen stählernen Willen, diesem Verrat zu trotzen. Dieser Wille sollte dazu dienen, sich frei der Göttin aufzugeben, sich in ihrem Opfer sicher zu sein – und nicht darin bestehen, auf den Platz hinauszutreten und vor allen diesem falschen Lord seine hämische Maske von der falschen Fratze abzuziehen!
Wieder und wieder begann sie ihr Gebet von Neuem, während sie durch die offenen Tempeltüren hörte, wie sich dort draußen die Menge versammelte und begann, dem falschen Herzog zuzujubeln. Es schien ihr wie ein Hohn, dass dieses Schauspiel, diese Posse, vor dem Tor dieses Tempels aufgeführt wurde und …
Wieder war ihr die Meditation entglitten. Schon lange hätte sie in dieser Welt nichts mehr wahrnehmen sollen, sich lösen sollen, sich aufgeben … doch es gelang ihr einfach nicht. Sie schämte sich dafür.
Lass es gut sein, Kind, hörte sie eine leise Stimme. Es braucht mich nicht in deiner Welt … ich würde den Tausch nicht wollen, sprach die leise Stimme weiter, ein Flüstern nur, fern und doch so groß, wie die Weiten eines Ozeans.
Ich brauche dafür dich an diesem Ort. Es braucht auch diesen Zorn. Schäme dich nicht dafür, denn dieser Zorn ist nicht allein von dir, ich bin ebenfalls erzürnt, ich lasse mir meinen Segen nicht gerne stehlen. Also, Kind, wärest du an meiner Stelle, was würdest du jetzt tun?
Es war keine Frage, über die Larmeth lange grübeln musste. Ein seltsamer Puls ließ ihr Herz pochen, ein Rhythmus, so alt wie das Leben selbst, wie Ebbe und Flut der Ozeane und der Lauf der Gestirne. Er nahm sie auf, füllte sie, trieb sie, führte sie und zeigte ihr den Weg.
Dann tue es, hörte sie die ferne
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