Der Falke von Aryn
Stimme lächeln. Worauf wartest du?
Langsam stand Larmeth auf und schlug Kapuze und Schleier ihrer Robe zurück. Es war das große Ornat, in vierhundert Jahren war es nur zweimal getragen worden, weiße Seide, die wie Wasser um sie floss, mit feinen, leichten Stickereien, Runen, die seit Anbeginn der Zeiten überliefert waren und an die Gaben der Göttin erinnern sollten.
Die Priesterin hob langsam die linke Hand und führte sie über ihr Herz, dort, wo mit feinem goldenen Draht eine Rune eingewebt war, die seit jeher für die Göttin stand. Gnade. Gnade war es, die Isaeth ihren Gläubigen anriet. So lange schon, dass die Sterblichen scheinbar schon vergessen hatten, dass es keine Götter gab, die nicht auch streitbar waren.
Noch immer folgte Larmeths Herz diesem fernen Puls, trieb das Blut heiß und kalt zugleich durch ihre Adern. Unter ihren Fingern löste sich das feine Goldgespinst von dem Gewand und formte sich jetzt neu. Eine neue Rune wob sich in den Stoff. Zorn. Eine andere folgte. Strafe. Dann die letzte. Gerechtigkeit.
Larmeth ließ die Hand sinken, hob das Kinn und straffte sich und schaute sich im Tempel um. Schon vor Stunden hatten sie sich hier versammelt, um ihr bei ihrem Gebet zu den Füßen der Göttin mit eigener Andacht eine Hilfe zu sein. Entlang des Mittelgangs standen alle die, die in diesem Tempel ihrer Göttin dienten, von dem Kardinal, der nie aufhören würde, mit seinen Sünden zu ringen, bis hin zu einem kleinen Jungen, dem jüngsten ihrer Tempeldiener: Priester, Lehrer und Schüler der Tempelschule, auch die Gärtner und die Blumenmädchen, die den Garten der Göttin hegten und sie schmückten. Staunend, schweigend und auch furchtsam hatten sie mit angesehen, wie das goldene Gespinst aus Gnade Zorn, Strafe und Gerechtigkeit formte.
Alle sahen sie jetzt an und warteten auf das, was geschehen würde.
Larmeth trat vor und streckte den linken Arm aus, hinter ihr ertönte ein leises Surren, und der Falke breitete die Schwingen aus, um auf den Arm der Priesterin zu hüpfen.
Nur kurz verzog sie das Gesicht, als scharfe Krallen sich in Haut, Muskeln und Knochen bohrten und sich das Weiß des Ärmels zu blutigem Rot verfärbte.
Das Blut, das, wäre sie nicht in den Dienst der Göttin getreten, in den Adern einer Hüterin fließen würde, gab dem Falken das, was er für das Wunder brauchte. Der Puls pochte in ihren Schläfen und nahm ihr den Schmerz, sie lächelte, und obwohl der Falke zu schwer dafür hätte sein müssen, hob sie ihren Arm, hielt ihn etwas höher, um dem Falken in die dunklen grünen Augen zu sehen.
Es schien ihr, als ob er nicken würde. Er war bereit. Sie war es auch.
Sie sah zu ihren Priestern hin, dann zu dem Tor des Tempels.
»Wir gehen.«
Vorn, auf dem Platz, hatten die Schergen Visals einen Kreis um den Wagen herum geräumt, die Menge zurückgedrängt, bis niemand näher als zwanzig Schritt an den Wagen gelangen konnte.
Ein Meer von aufgeregten Gesichtern hob sich dem falschen Herzog entgegen, der nun an die Kante des Wagens vortrat und die Arme in einer weiten Geste hob … und auf diese Weise das Gebrause von Hunderten oder gar Tausenden Stimmen zum Erliegen brachte. Es war, als hielte die ganze Welt den Atem an.
Raban, der eine letzte Gelegenheit witterte, all das abzuwenden, machte sich bereit zum Sprung. Hinten die Klappe hoch, zwei Schritt, er hatte sein bestes Messer in der Hand, scharf genug, einem Floh das Haar zu spalten, er streckte die Hand nach der Kante des Wagens aus, doch Mort zog ihn mit hartem Griff zurück.
Raban unterdrückte einen Fluch und sah den alten Mann nur trotzig an, doch der wies zurück in die Menge, wo langsam, viel zu langsam, zwei Reiter sich einen Weg zum Wagen bahnten.
Mit mörderischem Verlangen schaute Raban noch einmal nach vorn zu dem falschen Herzog hin, der sich in dem Moment zu baden schien, und gab nach. Wenn nicht jetzt, dann später, dachte der Mohr grimmig. Auch wenn er sich bisweilen verspätete, kam der Tod immer noch zur rechten Zeit.
»Heute«, hob Visal mit weit tragender Stimme an, die vielleicht doch ein wenig zu schrill klang, »ist ein großer Tag. Ein Wunder ist bereits geschehen, der kaiserliche Gouverneur sichtete die Beweise, die ich ihm vorgelegt habe!« Er wartete, vielleicht auf Jubel oder ein Hurra, doch die Menge schwieg und starrte ihn nur wartend an. »Er befand, dass es nicht rechtens war, dass Kaiser Pladis die Stadt auch nach dem Tod der Prinzessin hielt, denn ohne ihren Erben stand es
Weitere Kostenlose Bücher