Der Fall Lerouge
Tabarets Beweise nicht aus der Welt zu schaffen waren und überdies den alten Mann nichts dazu bringen konnte, eine falsche Spur, etwa die, auf der Gevrol sich tummelte, zu verfolgen. Und dann: Albert zu schonen hieà doch nichts anderes, als Noël zu betrügen und ein Verbrechen ungesühnt zu lassen ...
Seine Gedanken bewegten sich in einem Kreis, aus dem er keinen Weg sah. Vielleicht sollte er sich überhaupt von dieser Aufgabe zurückziehen und den Fall einem Kollegen überlassen ... Aber durfte er sich vor der Pflicht, unparteiisch sein Amt zu verwalten, drücken? Dann wieder fragte er sich, ob denn in der Sache, die es zu entscheiden galt, seine Person vom Geschehen der Vergangenheit zu trennen war.
»Ich muà meine Pflicht tun«, sagte er laut, »muà das Unrecht sühnen. Und Claire, sie kann doch nicht wollen, daà der Mann, den sie liebt, unter einem Verdacht steht. So nehme ich denn die Bürde auch um ihretwillen auf mich. Wenn er keine Schuld hat, wird sie einen makellosen Albert heiraten können; ist er aber ein Mörder, dann war er ihrer Liebe nicht wert. Auf jeden Fall darf ich kein Vorurteil ihm gegenüber in mir aufkommen lassen. SchlieÃlich war es Claire, die mich zurückgewiesen hat, nicht er. Vater Tabarets Beweismaterial, so belastend es sich auch für Albert de Commarin ausnehmen mag, werde ich entkräften, wenn er mich von seiner Schuldlosigkeit überzeugen kann.« Bei der Nennung des Namens Tabaret fiel Daburon der wartende Alte wieder ein. Er sah zur Uhr: Es war fast drei. »Hoffentlich ist der arme Mann nicht eingeschlafen«, murmelte er, als er in sein Arbeitszimmer hinüberhastete.
Aber auch Tabaret hatte nicht gemerkt, wie die Zeit vergangen war. Nachdem er sich innerhalb einer Viertelstunde in Daburons Arbeitszimmer umgesehen und dabei dessen Geräumigkeit und wertvolle Einrichtung bewundert, die Bilder an den Wänden, die Statuetten auf dem Kaminsims und mit Kennerblick den wohlsortierten Bücherschrank betrachtet hatte, war er in einen Sessel gesunken und bald darauf in eine Zeitung vertieft. Doch das Lesen konnte ihn in einer Nacht wie dieser nicht fesseln. Immer wieder schweiften seine Gedanken ab, immer wieder drehten sie sich um den Mord in Jonchére. Es gab keine Lücke in seiner Beweisführung, davon war er fest überzeugt. Jeder Zweifel wäre töricht gewesen. Da Daburon anscheinend derselben Ansicht war, schienen sich für Tabaret keine Komplikationen zu ergeben. Er spielte den Fall mit allem Pro und Kontra, mit seinen Wahrscheinlichkeiten und seinen zweifelhaften Punkten noch einmal durch, bedachte Konsequenzen und prüfte neu aufkommende Vermutungen und war so in Gedanken verstrickt, daà er nicht hörte, wie der Untersuchungsrichter das Zimmer betrat. Erst als Daburon ihn ansprach, wurde er aus seinem Sinnen gerissen.
»Entschuldigen Sie, Vater Tabaret, daà ich so unhöflich war, Sie so lange sich selbst zu überlassen«, sagte Daburon.
Vater Tabaret stand aus dem Sessel auf und deutete eine Verbeugung an, während er antwortete: »Wenn ich allein bin, empfinde ich selten Langeweile. Es gibt da immer so viel zu überdenken ...«
Die beiden nahmen, einander gegenüber, an einem Tisch Platz, auf dem sich die Papiere um die Mordsache Lerouge häuften. Man sah Daburon die Strapazen des inneren Kampfes, den er ausgefochten hatte, an.
»Ich habe mir Gedanken über die Angelegenheit gemacht«, begann er mit müder Stimme.
Tabaret unterbrach ihn voller Ungeduld nach dem langen Alleinsein: »Und ich habe mir, gerade als Sie das Zimmer betraten, ausgemalt, welches Bild wohl der junge Graf in dem Augenblick bieten wird, da man ihn verhaftet. Denn auch das gehört in diesem Fall für mich zu den wichtigen Ãberlegungen: Wie wird sich dieser junge Aristokrat der Schmach einer Verhaftung stellen? Wird er arrogant sein und damit versuchen, die Beamten einzuschüchtern? Wird er wütend werden und sie hinauswerfen lassen? Verbrecher von Rang und Namen handeln oft so. Wahrscheinlich aber ist, daà er sich gelassen geben, den Haftbefehl als ein MiÃverständnis hinstellen und auf eine sofortige Einvernahme durch den Untersuchungsrichter bestehen wird. Machen Sie sich bei dem Charakter solcher Gentleman-Verbrecher darauf gefaÃt, daà sie den Beamten mit frecher Herablassung entgegentreten. Drängen Sie darauf, daà ihm nichts bleibt, als ein
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