Der Fall Lerouge
hielt. Alle Förmlichkeit, die bisher das Verhältnis des Vaters zu seinem Sohn beherrscht hatte, schien dahingeschmolzen zu sein. Der Alte fühlte jäh Stolz und Sympathie mit einem Mann in sich aufsteigen, der alles opfern wollte, damit der Gerechtigkeit Genüge getan würde. Und Albert war bewegt, daà er den herrischen Sinn seines Vaters so gebrochen sah. SchlieÃlich löste der Graf seine Hand aus der Alberts, setzte sich wieder in den Sessel unter dem Stammbaum der Commarins und sprach: »Laà mich jetzt allein, Albert. Ich muà alles überdenken und mich mit der neuen Lage vertraut machen.«
Was soll ich tun, dachte er, als Albert gegangen war, wenn er mich verläÃt? O Gott! Was wird mir der andere überhaupt sein können?
Die Diener, denen der Streit nicht verborgen geblieben war, sahen voller scheuen Staunens, wie Albert, bleich und doch gefaÃt, langsam die Treppe zu seinen Räumen emporstieg. Seine Gedanken waren trotz der heftigen Auseinandersetzung mit seinem Vater bei Claire. Ob sie wohl an ihn dachte? Er war überzeugt davon, denn sie wuÃte, daà die Aussprache mit dem Grafen an diesem Abend oder am nächsten Morgen stattfinden würde. Albert drehte sich alles vor Augen, als er sein Wohnzimmer betrat. Der Kopf dröhnte. Er klingelte nach Tee.
»Soll ich den Arzt kommen lassen?« fragte Lubin, der Kammerdiener, der den Tee brachte.
»Kein Arzt kann mir helfen«, erwiderte Albert. »Ich muà mit meiner Krankheit allein fertig werden.«
Die Nachwirkungen der Auseinandersetzung lieÃen ihn nicht schlafen. Lange stand er am offenen Fenster und blickte über den mondbeschienenen Park mit seinen mattleuchtenden Blumenrabatten. Die freundliche Nachtluft durchzog das Zimmer, er hörte die Diener sprechen und lachen, das Geräusch von Schritten kam aus dem Hof herauf und aus den Ställen das Stampfen der Pferde.
Alles, worauf Albert niederblickte und was ihm in dieser Stunde besonders seine Schönheit offenbarte, hatte er bisher sein eigen nennen dürfen. Und nun sollte er das alles aufgeben müssen? Der Gedanke daran, daà auch Claire auf Reichtum und Pracht würde verzichten müssen, machte den eigenen Verzicht noch schwerer. Es war sein Traum gewesen, ihr einmal alles bieten zu können, was ihr bisher versagt worden war. Was wird nun, fragte er sich.
Als es von St-Clothilde Mitternacht schlug, erwachte er aus seinen Gedanken. Ihn fror, und er schloà das Fenster. Er setzte sich an den Kamin und versuchte, sich durch die Lektüre einer Abendzeitung abzulenken. In dieser Zeitung wurde auch über den Mord in Jonchére berichtet. Aber Albert konnte sich nicht aufs Lesen konzentrieren. Er legte das Blatt beiseite und versuchte, einen Brief an Claire zu schreiben, kam aber über die Anrede nicht hinaus. Die Buchstaben tanzten ihm vor den Augen, die Erschöpfung legte sich bleischwer auf ihn. Als der Morgen dämmerte, schlief er auf dem Sofa ein.
Gegen halb neun erwachte er aus einem Traum, der ihn mit bedrückenden Bildern gequält hatte, als die Tür zu seinem Zimmer krachend aufflog.
»Monsieur«, rief einer der Diener, völlig auÃer Atem. »Herr Graf! Fliehen Sie! Die Polizei ... verstecken Sie sich ... sie sind da ... sie ...«
Doch ein Polizeibeamter stand schon in der Tür. Er wurde von einigen Männern begleitet, unter denen sich Tabaret befand, der sich bemühte, nicht gesehen zu werden.
Der Polizeibeamte trat auf Albert zu.
»Sind Sie Guy Louis Marie Albert de Rheteau de Commarin?« fragte er.
»Ja.«
»Monsieur de Commarin, ich verhafte Sie im Namen des Gesetzes.«
»Sie verhaften mich?«
Albert, noch halb im Traum, begriff nicht, was vor sich ging. Er versuchte, sich wieder in den Traum zu flüchten.
Doch der Polizeibeamte hielt ihm ein Papier vor Augen und sagte: »Der Haftbefehl.«
Nur einzelne Wörter konnte Albert entziffern. Doch was er las, lieà ihn zusammensacken. Er murmelte: »Claudine ist ermordet! Ich bin verloren!« Dieser letzte Satz wurde zwar sehr leise gesprochen, doch die Polizeibeamten, auch Tabaret, hatten ihn verstanden. Während der Polizeibeamte, der den Haftbefehl vorgewiesen hatte, Albert einige Fragen stellte, durchsuchten seine Kollegen unter der Leitung von Vater Tabaret die Räume. Tabaret stöberte in allen Schränken und Schubladen, rückte sogar die Möbelstücke ab.
Einiges aus dem
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