Der Fall Lerouge
»Machen Sie sich da keine Hoffnung«, antwortete Noël niedergeschlagen. »Ich habe sie in einem Zustand verlassen, der kaum erwarten läÃt, daà sie den Tag überlebt.«
»Und wann trat die Krankheit ein?«
»Gestern abend.«
»So aus heiterem Himmel?« Daburon war offensichtlich miÃtrauisch.
»Wenn Sie so wollen, aus heiterem Himmel. Aber ich nehme an, daà sie das Leiden schon seit langem mit sich herumgeschleppt hat. Als sie dann gestern eine Zeitung las und ihr Blick auf die Reportage über den Mord in Jonchére fiel, stieà sie einen Schrei aus, sank zu Boden und jammerte: âºDer unglückliche Mann, der unglückliche Mann!â¹Â«
»Nicht: âºDie unglückliche Frauâ¹?«
»Nein, Monsieur. Ihr Jammern galt wohl nicht meiner unglücklichen Amme.«
Daburon war überrascht, hob den Blick zu Noël empor, der den Kopf senkte.
»Was sagte sie danach?« fragte Daburon, nachdem er sich einige Notizen über diese wichtigen Worte von Madame Gerdy gemacht hatte.
»Nichts mehr. Unser Dienstmädchen und ich trugen sie ins Bett. Ich schickte nach dem Arzt. Seitdem ist sie ohne BewuÃtsein.«
»Genug davon«, unterbrach Daburon Noël, der sich anschickte, die Diagnose des Arztes in allen Einzelheiten wiederzugeben. »Was mich interessiert: Kennen Sie jemanden, der Madame Lerouge feindlich gesonnen war?«
»Nein.«
»Oder jemanden, dem ihr Tod gelegen gekommen wäre?«
Daburon lieà keinen Blick von Noël, und so bemerkte er, daà dieser stutzte und eine Miene machte, als tobte in seinem Innern ein heftiger Kampf.
»Nein, niemanden«, sagte Noël schlieÃlich, doch das klang nicht sehr überzeugend.
»Niemanden?« wiederholte der Untersuchungsrichter, und er faÃte Noël schärfer ins Auge. »Sie kennen also keinen, der aus dem Mord Nutzen ziehen könnte?«
»Es gibt da nur eine persönliche Angelegenheit«, antwortete Noël nach einigem Zaudern, »in der mir ein schweres Unrecht zugefügt worden ist.«
Jetzt kommt er auf die Briefe zu sprechen, dachte Daburon befriedigt, und ohne daà ich Tabaret ins Spiel bringen muÃte. Gott sei Dank!
»Ein schweres Unrecht? Erklären Sie sich näher.« Noël schien vor Verlegenheit nicht zu wissen, wohin er blicken sollte. Er schwieg einige Sekunden, ehe er begann: »Als Advokat weià ich, daà die Justiz ein Recht darauf hat, die ganze Wahrheit zu erfahren. Gleichwohl liegt dieser Fall so, daà das Ausbreiten der Wahrheit das Gewissen eines Mannes von Ehre gefährden könnte. Ich empfinde es als auÃerordentlich hart, Geheimnisse lüften zu müssen, die ...«
Daburon war beeindruckt von dem ernsten Ton, in dem Noël seine Rede vortrug. Da er ohnehin wuÃte, was zur Sprache kommen würde, unterbrach er den Zeugen mit einer Handbewegung, um ihm das Geständnis in Gegenwart des Protokollanten zu ersparen. Mit einer Wendung zu dem dritten Mann im Raum sagte er nur: »Constant!«
Diese Anrede, offenbar ein verabredetes Zeichen, lieà den Schreiber sofort aufstehen und, den Federhalter hinterm Ohr, das Zimmer verlassen. Noël sah dieser Szene mit Erstaunen zu.
»Vielen Dank, Monsieur«, sagte er, als er mit Daburon allein war. »Das war sehr liebenswürdig von Ihnen, daà ich meine Erklärung nur vor Ihnen abzugeben brauche. Ich bitte Sie von vornherein, mich zu entschuldigen, wenn ich bitter werden sollte. Ich bin noch zu sehr erregt, um sachlich sein zu können. Was ich zu berichten habe, ist nicht viel. Ich habe für meinen Beruf gelebt und auÃerhalb meiner Praxis ein ruhiges, zurückgezogenes und bescheidenes Dasein gefristet, ganz in Verehrung der Frau zugewandt, die ich für meine Mutter hielt. Meine uneheliche Geburt machte mein Fortkommen schwer; aber ich habe es doch geschafft, mir in Fachkreisen einen Namen zu machen. Ich konnte also durchaus zufrieden sein, bis zu dem Tag, da mir ein Zufall die Briefe in die Hände spielte, die der Graf de Commarin, mein Vater, an Madame Gerdy geschrieben hatte, als sie einander noch in Liebe begegnet waren. Jetzt wurde mir bewuÃt, daà ich nicht der war, für den ich mich und man mich bisher gehalten hatte. Madame Gerdy war nicht meine Mutter.«
Ohne Stocken und ohne Daburon Gelegenheit zu Zwischenfragen zu geben, erzählte Noël, was er einige Stunden zuvor schon Vater Tabaret berichtet
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