Der Fall Lerouge
Gespräch mit dem Staatsanwalt hatte bereits stattgefunden, desgleichen eine Beratung mit der Polizei. Ein Haftbefehl gegen Albert de Commarin war erlassen, der alte Graf, Madame Gerdy und Noël, auÃerdem einige Diener Alberts waren zur Vernehmung vorgeladen worden.
Obgleich Daburon die Atmosphäre dieses Zimmers vertraut war, hatte ihn heute eine seltsame Nervosität befallen. Immer wieder sagte er sich, daà er selten einen Fall behandelt habe, der so eindeutig war wie dieser, und dennoch konnte er eine bedrängende Unruhe nicht von sich abtun. Ruhelos ging er vom Schreibtisch zum Fenster und zurück, blickte immer wieder auf seine Taschenuhr, und wenn er drauÃen Schritte hörte, hielt er in seiner Wanderung jäh inne.
Endlich kam der Schreiber, ein wenig verspätet, ein groÃer hagerer Mann in den DreiÃigern, der dafür bekannt war, daà er auch die erschütterndsten und scheuÃlichsten Geständnisse mit unbeweglicher Miene zu Protokoll nahm. Er hieà Constant und entsprach ganz den Vorstellungen, die man sich von einem ausgezeichneten Protokollanten machte.
Mit einer Verbeugung vor Daburon entschuldigte er sich für sein Zuspätkommen.
»Macht nichts, wir haben noch Zeit«, erwiderte Daburon. »Aber heut gibt es eine Menge Arbeit. Ordnen Sie schon die Akten.«
Als erster der Vorgeladenen erschien einige Minuten später, geführt von einem Gerichtsdiener, Noël Gerdy, und er gab sich so ungezwungen wie einer, dem dieses Gebäude nicht fremd war. Dieser Mann, der in Daburons Zimmer trat, erinnerte kaum mehr an den Freund Tabarets oder an den Liebhaber, der Juliette einen Besuch abgestattet hatte. Er war ganz der bekannte Rechtsanwalt, der von seinen Kollegen geschätzt und in der Ãffentlichkeit beliebt war. Nichts in seinen Zügen und seinem Auftreten deutete darauf hin, daà er einen Tag voller aufregender Erlebnisse und einen nächtlichen Besuch bei seiner Freundin hinter sich gebracht hatte. Noël war gut rasiert, trug eine untadelige weiÃe Krawatte, und Haare und Schnurrbart waren sorgfältig gebürstet. Dadurch unterschied er sich von dem Richter, der blaà und übernächtig, mit tiefen Schatten unter den Augen und in einem zerknitterten Hemd hinter dem Schreibtisch saÃ, offensichtlich noch bewegt von dem, was die letzten vierundzwanzig Stunden ihm beschert hatten.
Mit einer Verbeugung überreichte Noël seine Vorladung und sagte: »Monsieur, ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung.«
Daburon kannte den jungen Anwalt von einigen Begegnungen in den Gängen des Justizpalasts, und er erinnerte sich an ihn als an einen Mann, von dem es hieÃ, er habe eine glänzende Karriere vor sich. Er bat Noël, Platz zu nehmen. Dann folgte das übliche Feststellen der Personalien, ehe er die Vernehmung eröffnete.
»Wissen Sie, Monsieur Gerdy, warum Sie vorgeladen worden sind?« fragte Daburon.
»Es geht, soweit ich informiert bin, um den Mord an der alten Frau in Jonchére.«
»Sie sind richtig informiert«, sagte Daburon, und da er sich des Versprechens erinnerte, das er Tabaret gegeben hatte, setzte er hinzu: »Wundern Sie sich nicht, wenn Sie als erster vorgeladen worden sind. Ihr Name taucht erstaunlich oft in den Papieren auf, die wir bei der Toten gefunden haben.«
»Ich wundere mich nicht. Madame Lerouge war meine Amme. Madame Gerdy hat ihr häufig geschrieben.«
»Dann berichten Sie mir, was Sie über die Ermordete wissen.«
»Persönlich ist mir kaum etwas über sie bekannt. SchlieÃlich ist sie von uns fortgegangen, als ich noch ein kleines Kind war. Später habe ich ihr hin und wieder etwas Geld zukommen lassen.«
»Haben Sie das Geld persönlich überbracht?«
»Manchmal. Meine Besuche aber waren spärlich und kurz. Madame Gerdy dagegen hat sie oft aufgesucht, und ihr pflegte Madame Lerouge auch ihre Sorgen anzuvertrauen. Sie könnte Ihnen also mehr zu Diensten sein, als ich es kann.«
»Madame Gerdy ist auch vorgeladen.«
»Ich fürchte, sie kann nicht kommen. Sie ist krank«, sagte Noël.
»Ernsthaft krank?«
»Nach Auffassung von Doktor Hervé: auf den Tod krank. Sie hat sich eine Hirnhautentzündung zugezogen und wird, auch wenn ihr Leben gerettet werden sollte, geistesverwirrt bleiben.«
»Und Sie glauben nicht, daà wir irgend etwas von ihr erfahren könnten?« fragte Daburon enttäuscht.
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