Der Fall Peggy: Die Geschichte eines Skandals (German Edition)
ihren Leserbrief, den wollte sie gedruckt sehen. Aber nun passierte etwas, womit sie nicht gerechnet hatte: Ein Reporter der Zeitung kam umgehend vorbei und interviewte die vermeintliche Gründerin dieser neuen Bürgerinitiative. Gudrun Rödel beantwortete alle Fragen – und galt fortan als Gesicht der Bürgerinitiative »Gerechtigkeit für Ulvi«.
Wenig später holte sie dann auch die faktische Gründung nach. Sie nahm Kontakt zu Leserbriefschreiber Högl und anderen Leuten aus Lichtenberg und der näheren Umgebung auf. Die Neu-Mitglieder trafen sich regelmäßig im Gasthof »Zur goldenen Sonne«, jenem Lokal, in dem Peggy immer ihre Schularbeiten gemacht hatte und in dem sich Erwachsene auf nie ganz geklärte Weise angeblich mit Kindern amüsiert hatten. Inzwischen hatte der Gasthof allerdings neue Pächter und war längst nicht mehr das verrufene Sauflokal von einst. In der Stube lasen sie sich Passagen aus dem schriftlichen Urteil vor und diskutierten hingebungsvoll mögliche Fehler. Einige rekonstruierten akribisch den gerichtlich festgestellten Tathergang und hielten es, je länger sie die Details betrachteten, für immer unmöglicher, dass Ulvi es geschafft haben sollte, Peggy binnen einer knappen halben Stunde abzufangen, zu verfolgen, zu töten und ihre Leiche zu beseitigen, ohne auch nur eine einzige Spur zu hinterlassen. Nach und nach kam die Bürgerinitiative an Akten von Polizei und Justiz heran. Die Unterlagen bestärkten die Mitglieder in ihrem Verdacht, dass hier etwas nicht stimmen konnte. Im Jahr nach der Gründung – im November 2005 – erkämpften Ulvis Eltern dann vor Gericht, dass Gudrun Rödel zur amtlich bestellten Betreuerin für Ulvi eingesetzt wurde. Seitdem lautet das Ziel, ein Wiederaufnahmeverfahren für Ulvi zu erreichen. Eine aufwendige Angelegenheit. Mehrere Anwälte wurden kontaktiert, immer wieder Pläne geschmiedet und verworfen. Das änderte sich erst 2010. Diesmal sollte der Frankfurter Anwalt Michael Euler den Fall als Pflichtverteidiger übernehmen; auf Wunsch der Bürgerinitiative stellte er im November den entsprechenden Antrag. Doch der verschwand erst mal in den Untiefen der Hofer Staatsanwaltschaft. Es dauerte bis Juni 2011, bis das Landgericht Bayreuth Euler endlich zum Pflichtverteidiger bestellte. Die Bürgerinitiative wertete das als Etappensieg.
Zusätzlich bestärkt fühlte sich die Bürgerinitiative, als sich der Stadtrat von Lichtenberg mehrfach ebenfalls mit dem Fall Peggy beschäftigte und etwa die Frage diskutierte, ob die Justiz in Hof zu einer Entschuldigung bei den Lichtenbergern aufgefordert werden müsse. Bürgermeister Dieter Köhler sprach vielen aus der Seele, als er der Süddeutschen Zeitung sagte: »Die meisten hier glauben, dass Peggy noch am Leben ist.«
Dass der Fall auch Jahre nach dem mysteriösen Verschwinden des Mädchens für Unruhe sorgt, das kann weder das Gericht noch die bayerische Staatsregierung gewollt haben. Als Innenminister Günther Beckstein die erste Sonderkommission auflöste und stattdessen Kripo-Direktor Wolfgang Geier an den Fall setzte, hatte er ja genau das Gegenteil erreichen wollen – dass der Fall endlich gelöst wird, der Öffentlichkeit ein Täter präsentiert wird, das Gericht ein Urteil fällt und im Namen des Volkes Rechtsfrieden herrscht. Aber während das Volk sonst gern unter Verdacht steht, leichtfertig nach einem Täter zu rufen, ist es im Fall Peggy genau andersherum – hier verdächtigt das Volk den Staat der Lynchjustiz. Die Justiz hat sich mit ihrem Agieren im Fall Peggy massiv geschadet, es untergräbt seit Jahren ihre Autorität und Glaubwürdigkeit. Auch den öffentlichen Druck haben die Behörden mit ihrem Schweigen nicht von sich nehmen können. Im Gegenteil: Die Bürgerinitiative wurde seit ihrer »versehentlichen« Gründung immer bekannter, Gudrun Rödel ist inzwischen ein begehrter Talkshow-Gast und für praktisch jeden Journalisten, der über den Fall Peggy berichten möchte, die erste Anlaufstation. Mit immer neuen Enthüllungen über Ungereimtheiten und Ermittlungspannen füttert sie seit Jahren die Redaktionen. Der Fall Peggy hat in Öffentlichkeit und Medien ein Eigenleben entwickelt und sich als eine Geschichte mit klaren Fronten entpuppt: Ulvi, obwohl als Kinderschänder angeprangert und wegen Mordes verurteilt, ist der Gute, während Polizei, Staatsanwaltschaft und Gericht die Rolle der Bösen übernehmen. Das muss man sich in Ruhe auf der Zunge zergehen lassen – nicht einmal der
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