Der Fall Peggy: Die Geschichte eines Skandals (German Edition)
hatten.
Kapitel 17
Das Gutachten
N ach dem 2. Juli 2002 wird Ulvi Kulac mehrfach weiter verhört. Scheinbar mit Erfolg, wie Geier notiert: »Der Beschuldigte wiederholte mehrmals sein Geständnis als Ganzes oder auch nur phasenweise.« Das klingt etwas diffus und bedeutet allgemeinverständlich: Ulvi gestand zwar in zwei weiteren Verhören erneut den Mord an Peggy, aber er schilderte den Tatablauf und vor allem den Verbleib der Leiche jedes Mal anders. War es am 2. Juli noch sein Freund Tim gewesen, der die tote Peggy weggeschafft haben soll, sagte er jetzt: »Der Vati hat sie weg.« Unmittelbar vor dieser Aussage hatte ihn ein Beamter darauf hingewiesen, dass der Abtransport der Leiche mit Hilfe von Tim und dessen Freundin Ulrike sich so nicht zugetragen haben könne. Die beiden hatten ein wasserdichtes Alibi, die Polizei hatte es überprüft: Tim und Ulrike waren zur fraglichen Zeit in der Arbeit. Wie es scheint, hat Ulvi auf diese Information mit einer neuen Variante reagiert.
Neben Widersprüchen wie diesem gibt es aber noch ein prozessrechtliches Problem: Ulvi hat den Mord an Peggy nur im Polizeiverhör gestanden, nicht aber vor einem Vernehmungsrichter. Im Prozess darf ein Geständnis nur dann verlesen und ins Verfahren eingeführt werden, wenn es vor einem Richter abgelegt wurde. Wie so vieles im Fall Peggy sollte aber auch diese Vorschrift auf nicht ganz übliche Weise umschifft werden.
Zu Hilfe sollte Ermittlern und Staatsanwaltschaft dabei ein Glaubwürdigkeitsgutachten kommen, das Ulvi bescheinigte, er habe bei seinem Geständnis die Wahrheit gesagt. Erstellt hat es der Berliner Gutachter Hans-Ludwig Kröber. Kröber, der das Institut für Forensische Psychiatrie der Freien Universität Berlin leitet, gilt als Koryphäe mit internationaler Reputation. Für Schlagzeilen sorgte er, als er im sogenannten Stephanie-Prozess in Dresden tiefe Einblicke in die Seele des Sexualstraftäters Mario M. gewährte.M. hatte das 14-jährige Mädchen als Sex-Sklavin in seiner Wohnung gehalten. Er habe sich wie in einem Science-Fiction-Film eine Partnerin nach seinen Wünschen formen wollen, analysierte Kröber. Im Kachelmann-Prozess beurteilte er die Aussagefähigkeit jener Frau, die den früheren »Wetterfrosch« wegen Vergewaltigung angezeigt hatte und als Nebenklägerin auftrat. Kröber weckte Zweifel an der These, die Erinnerungslücken der Frau seien Folgeerscheinungen des durch die vorgeworfene Vergewaltigung erlittenen Traumas. Für den Vatikan untersuchte Kröber die Frage, ob das Zölibat bei Priestern zu einer verstärkten Neigung zum Missbrauch von Kindern führe, und verneinte diese Frage mit einer einprägsamen Aussage: »Man wird eher vom Küssen schwanger als vom Zölibat pädophil.«
Im Peggy-Prozess war Kröber eine Schlüsselfigur. Ohne sein Gutachten hätte Ulvis Geständnis nicht verwertet, der Angeklagte nicht verurteilt werden können.
*
Die Quellen, auf deren Basis Kröber damals sein Gutachten erstellte, listet er detailliert auf. Erwähnt sind zwei Videobänder, auf denen Ulvi bei Nachstellungen der vermeintlichen Tat zu sehen ist, aufgezeichnet am 30. Juli und am 1. August 2002. Das erste Video vom 2. Juli indes fehlt in seiner Liste; der Verdacht liegt nahe, dass ihm die Polizei dieses Band gar nicht erst zur Verfügung gestellt hat. Darüber hinaus erwähnt Kröber die »dreibändigen Ermittlungsakten des Verfahrens«. Auch hier hatte er offenbar nur auf einen Teil des Materials zurückgreifen können. Wir haben die Quellenlage mit Ulvis heutigem Anwalt, Michael Euler, abgeglichen. Euler sagte uns, zu dem Aktenzeichen, das Kröber nennt, gebe es mindestens sieben Bände, nicht nur drei.
Geier fertigte für Kröber außerdem eine Zusammenfassung des Ermittlungsstandes an, die uns ebenfalls vorliegt. »Beiliegende Handakten«, so wird zu Beginn des Berichts angemerkt, » dienen nur zur Erstellung des bezeichneten Gutachtens « [im Original gefettet] und werden »für das weitere Verfahren nicht mehr benötigt. […] Der vorliegende Zwischenbericht wurde ebenfalls lediglich zu Gutachtenerstellung gefertigt und findet als solches keinen Eingang in die Hauptakte.«
In diesem Zwischenbericht schildert Geier den Tatablauf so:
Ulvi Kulac [wartete] am 7. Mai 2001 gezielt auf sein späteres Opfer, die 9-jährige Peggy Knobloch. Er hielt sich hierzu am Henri-Marteau-Platz in Lichtenberg auf, dem zentralen Punkt auf dem Heimweg des Mädchens von der Schule.
Zeugen hätten ihn dort zwischen 12.55
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