Der Fall Peggy: Die Geschichte eines Skandals (German Edition)
kaum so zustande gekommen.
Profiler Müller registrierte noch eine weitere Merkwürdigkeit: Der Feldweg, über den Peggy geflohen sein soll, führt an Dutzenden kleinen Gärten vorbei. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass dort am 7. Mai 2001 Menschen gewesen sind. Peggy hätte in ihrer Not einfach in den nächstbesten Garten laufen können, um Schutz zu suchen. Und selbst wenn sie in der Kleingartensiedlung niemanden angetroffen hätte, wäre sie durch die Gärten auf kurzem Weg zurück zum Ortskern gekommen und hätte sich ihrem Wohnhaus von hinten annähern können. Doch auch das tat Peggy laut Ulvis Geständnis nicht, obwohl diese Strecke kaum mehr als 50 Meter betragen hätte. Vielmehr sei sie den gesamten langen Weg um die Altstadt herum bis zum Schlossberg gerannt, wo er sie erstickt, die Leiche an die Schlossmauer geschleift und notdürftig mit Zweigen abgedeckt haben will.
Dann, auch das fiel Müller auf, habe Ulvi immer wieder andere Versionen über den Verbleib der Leiche erzählt. Mal soll ihm sein Kumpel Tim geholfen haben, am Ende soll es der Vater gewesen sein. Die Version mit dem Vater erkor das Gericht zur Wahrheit: Ulvi sei nach dem Mord die steile Treppe zum Schlossplatz hinaufgeeilt zur Wirtschaft der Eltern, habe den Vater geweckt, der den leblosen Körper in eine Decke gewickelt, nach oben ins Auto geschafft und weggefahren haben soll. Diese Version war aus juristischer Sicht praktisch. Die Justiz leitete zwar ein Ermittlungsverfahren gegen Ulvis Vater ein, wusste aber von vornherein, dass sie ihn dafür nicht würde bestrafen können. Das Delikt wäre Strafvereitelung gewesen. Die ist aber unter engen Verwandten erlaubt.
Ulvi erklärte vor Gericht, er habe seinen Vater nur deshalb bezichtigt, weil: »Die haben gesagt, es muss jemand aus der Familie gewesen sein.« Das wiederum könnten die Polizisten von ihrem eigenen Kollegen aus München gehört haben, dem Profiler Alexander Horn, der die Tathergangshypothese nach Geiers Vorab-Informationen verfasst hatte. Die Ermittler lasen in Horns Papier: »Bei der Beseitigung der Leiche wirkten weitere Personen (evtl. enges familiäres Umfeld des Ulvi) mit.« Entsprechend hielten sie Ulvi im Geständnisverhör genau das vor.
Kapitel 23
Zeugin der Anklage
W ährend das Gericht also eine Vielzahl von Aussagen zu widerlegen suchte, stützte es sich in seinem Urteil besonders auf eine Zeugin – Edith Scholz, die angab, sie habe Ulvi gegen Viertel nach eins auf der Bank am Henri-Marteau-Platz sitzen sehen. Niemandem sonst war er dort aufgefallen. Die Frage, warum eine Belastungszeugin ausreichte, um eine Tathergangshypothese zu untermauern, andere Zeugenaussagen unter den Tisch fielen oder passend gemacht wurden, um jene Zeugin der Anklage zu stützen, ist mehr als berechtigt.
Und noch etwas: »Zeitnahe Zeugen seien die glaubwürdigsten«, hatten die Ermittler immer wieder postuliert. Ausgerechnet Edith Scholz machte ihre Angaben erst ein Jahr nach Verschwinden des Mädchens. Interessant ist auch, dass Scholz weder im Ermittlungsbericht vom 10. Oktober 2002 noch im Text des späteren Urteils als Zeugin auftaucht. Lediglich in der Anklageschrift vom 28. Februar 2003 heißt es: »Der Angeschuldigte hielt sich am 7. Mai 2001 zwischen 12.55 und 13.10 Uhr auf einer Bank sitzend auf dem Henri-Marteau-Platz in Lichtenberg auf, wo er augenscheinlich wartete.« Niemand hat je geäußert, dass der Angeklagte dort »wartete«, nicht einmal Edith Scholz. »Hierbei hat ihn die Zeugin zweimal gesehen, als sie mit ihrem Pkw von Lichtenberg nach Bad Steben und zurück fuhr, um Kerzen zu kaufen.« In der Anklageschrift heißt es weiter: »Aus diesem Grunde [weil ihr Sohn Geburtstag hatte] konnte sich die Zeugin genau daran erinnern, dass sie ihre Beobachtungen am 7. Mai 2001 machte.«
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Am Tag, als Peggy Knobloch verschwand, wurde Mirko Scholz 24 Jahre alt. Im September desselben Jahres erwähnte der Pfleger Wolfgang Pötzsch in seiner Sozialanamnese über Ulvi Kulac, dass Mirko am 3. Mai dabei gewesen sein soll, als Ulvi »mit der Peggy Geschlechtsverkehr durchzuführen versuchte«. Und auch, dass Ulvi gesagt habe, der »Mirko Scholz weiß, wo sie liegt, nämlich unter einer Brücke bei Lobenstein oder Lichtenstein«. Fritz Hermann hatte ebenfalls mehrfach von einem »gewissen Scholz« gesprochen.
Aufgrund dieser Informationen leitete die Staatsanwaltschaft Hof im September 2001 ein Verfahren gegen Mirko ein wegen des »Verdachts des Totschlags zum Nachteil der
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