Der Fall Peggy: Die Geschichte eines Skandals (German Edition)
Scholz an ein Zusammentreffen mit dem Ulvi am Henri-Marteau-Platz erinnerte«. Bis dahin habe sie nie etwas davon erwähnt. Erst am Tag ihrer Aussage habe sie ihnen von ihrer »Begegnung« erzählt und auch von dem Essensbehälter und dem blauen Arbeitsoverall gesprochen.
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Eine Zeugin also, deren Glaubwürdigkeit durchaus Fragen aufwarf. Eine Mutter, deren Sohn ein Jahr lang ins Visier der Soko geraten war. Eine Frau, die sich erst ein Jahr nach Peggys Verschwinden an die alles entscheidende Beobachtung erinnert hatte. Dennoch hing von Edith Scholz’ Aussage alles ab. Sie war der Ausgangspunkt für die Tathergangshypothese. Ärgerlich nur, dass ihre Aussage denen anderer Zeugen entgegenstand. Ermittler und Gericht zeigten sich nicht nur flexibel, sondern auch kreativ. Denn sie zogen zur vermeintlichen Untermauerung ihrer Aussage die Zeugen Schümann und Ritter heran. Die Schülerin Hilke Schümann habe laut Gericht »keine Angaben dazu [zu Ulvi auf der Bank] machen« können. Wie auch, schließlich war der Schulbus um die fragliche Zeit noch gar nicht in Lichtenberg, wie der Fahrtenschreiber zweifelsfrei belegt.
Und für die Tatsache, dass Claudia Ritter Ulvi ebenfalls nicht gesehen hatte, lieferte das Gericht folgende Erklärung:
Die Kammer hat sich vor Ort davon überzeugt, dass sich die Sitzbank in Laufrichtung der Zeugin Ritter rechts allenfalls am Rande ihres Blickfeldes beim Überqueren der Straße befand. Zudem musste die Zeugin nach Überzeugung der Kammer beim Überqueren der Straße im Bereich der bezeichneten, unübersichtlichen Linkskurve ihre Aufmerksamkeit auf gegebenenfalls kommende Fahrzeuge richten.
Um ganz sicherzugehen, bescheinigten die Richter der Zeugin gleich noch ein »unsicheres Aussageverhalten«.
Wir haben die Örtlichkeit bei unseren Recherchen selbst in Augenschein genommen. Ganz so unübersichtlich, wie das Gericht behauptet, ist die Straße nicht, auch das Verkehrsaufkommen hält sich in Lichtenberg in Grenzen. Der Platz, den sie umkurvt, ist gut einsehbar. Zudem sind hier um die Mittagszeit immer Fußgänger unterwegs, auch aufgrund des bereits erwähnten Schichtwechsels der Firma. Niemand hat Ulvi sitzen sehen, was bei der beachtlichen Zahl an potenziellen Zeugen verwundert.
Neben Schümann und Ritter musste noch ein weiterer Zeuge widerlegt werden. Dabei ging es um das vermeintliche Zeitfenster, das das Gericht für den Mord festgelegt hatte. Lutz Lippert verlässt jeden Tag gegen halb zwei Uhr seine Wohnung, um zur Arbeit zu gehen. Der Weg führt ihn nicht nur am Marktplatz 8, sondern auch am Henri-Marteau-Platz vorbei. Er hat an jenem 7. Mai weder Peggy noch Ulvi getroffen. Auch dafür hat das Gericht eine Erklärung: Weil das Mädchen entgegen anderen Zeugenaussagen um halb zwei schon auf seiner Flucht Richtung Hermannsruh gewesen sei, könne ihr Lippert gar nicht begegnet sein. Und da Ulvi zu diesem Zeitpunkt angeblich bereits dabei war, das Mädchen zu ersticken, habe Lippert auch keine Schreie hören können. Eine perfekte Erklärung – dank des nach vorne verschobenen Zeitfensters für die Tat. In schönstem Juristendeutsch heißt es: »Nach dem von der Jugendkammer im Rahmen des durchgeführten Augenscheins unter Berücksichtigung des vom Angeklagten geschilderten Tatgeschehens durch Abschreiten des Weges überprüften Weg-Zeit-Verhältnis ist auszuschließen, dass zu dem Zeitpunkt, zu dem der Zeuge Lippert frühestens nach seinen Angaben sein Haus verlassen hätte, Peggy noch in der Lage war, zu schreien.«
So viele Worte für so wenig Information.
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Die letzte Hürde, die das Gericht nehmen musste, waren die vielen Zeugen, die Peggy noch nach der vermeintlichen Ermordung gesehen haben wollten. Einigen wurde gleich von Anfang an »Unglaubwürdigkeit« attestiert, andere wiederum setzten dem Gericht, wie zuvor schon den Ermittlern, mit ihren Aussagen zu.
Die offizielle Tatversion, laut der Ulvi Kulac das Mädchen zwischen 13.15 und 13.30 Uhr getötet haben soll, war aufgrund dieser Angaben kaum haltbar. Bei der Polizei hatten sich Beschwerden von Bürgern gehäuft, die während der Ermittlungen den Eindruck gewannen, die Soko interessiere sich nicht für das wirkliche Geschehen, sondern suche nur nach solchen Aussagen, die in ihr Konzept passten.
Tatsächlich hatten sich die Ermittler, vor allem die der Soko Peggy 2, von 2002 an gezielt auf ihre eigene Tathergangshypothese konzentriert. Um diese mit Zeugenaussagen in Übereinstimmung zu bringen, wandten sie –
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