Der Fall Peggy: Die Geschichte eines Skandals (German Edition)
werden.
Kapitel 30
Peggys letzte Monate
I n der letzten Zeit vor Peggys Verschwinden scheint es dennoch Vorfälle gegeben zu haben, die das Mädchen veränderten. Irgendetwas stimmte nicht mehr in ihrem Leben. Liest man die Aussagen ihrer Familie, spricht man mit früheren Freunden, dann scheint es im Nachhinein, als steuerte in ihren letzten Lebensmonaten alles auf ein dramatisches Ende zu. Als sei ihr Verschwinden, ihr mutmaßlicher Tod, kein Zufall gewesen, sondern nur das letzte Glied in einer Abfolge von Ereignissen. Als habe irgendjemand Regie dabei geführt.
Es ist schwer zu sagen, wann dieses letzte Kapitel in ihrem Leben eingeläutet wurde. Vielleicht im Sommer 2000. Da kam die Verwandtschaft der Kaisers aus Ostdeutschland zu Besuch. Auch Thorsten Engelhard war dabei. Er verbrachte viel Zeit mit Peggy. Niemand dachte sich etwas dabei, und Peggy erzählte nicht viel. Als er wieder abreiste, hinterließ Thorsten einen Zettel mit seiner Telefonnummer in Peggys Schulheft. Angerufen hat sie ihn nie. Aber gesehen hat sie ihn später mindestens noch einmal, denn er kam vor Peggys Verschwinden wenigstens zu einem weiteren Besuch nach Lichtenberg.
Dass mit Peggy ab dem Sommer 2000 etwas nicht mehr stimmte, fiel auch ihrer besten Freundin Sandra Kaufmann auf. Sandra ging die ersten beiden Schuljahre mit Peggy in dieselbe Klasse und zog dann nach Berlin. Ihre Eltern behielten aber ein Wochenendhaus in Lichtenberg und waren häufig zu Besuch. Sandra hat uns erzählt, dass Peggy sich zum Ende der zweiten beziehungsweise zum Beginn der dritten Klasse verändert habe. Sie sei früher immer auffallend fröhlich gewesen und immer eine Spur zu kontaktfreudig. Sie habe körperliche Nähe gesucht und jeden, der ihr halbwegs gefiel, gedrückt und in den Arm genommen. Den meisten Schulkameraden war das zu viel und zu nah, weshalb Peggy nicht besonders beliebt gewesen sei. Aber dann habe sie sich plötzlich abgekapselt und oft einfach vor sich hin gestarrt. Wenn sie sie gefragt habe, was los sei, habe Peggy nur kurz und abgehackt geantwortet, kaum mehr als ein dürres »Alles gut«. Und dabei immer weggeschaut. Sie habe auch viel geweint, erinnert sich Sandra. Das habe sie vorher so gut wie nie getan. Außerdem habe Peggy ihr erzählt, dass ihre Zensuren plötzlich abgerutscht seien. In der ersten und zweiten Klasse seien sie ganz ordentlich gewesen, solides Mittelfeld, aber von Beginn der dritten an richtig schlecht.
Ab dem Herbst häuften sich die Alarmzeichen. Peggy mochte auf einmal nicht mehr unbekleidet durch die Wohnung laufen, versteckte ihre benutzten Unterhosen oder warf sie gleich in den Müll. Sie wollte wieder bei ihrer Schwester schlafen und schloss sich im Badezimmer ein. Sie war schweigsam und aß schlecht. Im Frühjahr 2001 nässte sie sogar wieder ein.
Es war die Zeit um den 6. April, ihren neunten Geburtstag, ihren letzten. Sie verbrachte ihn zu Hause. Es muss ein deprimierender Tag für sie gewesen sein. Während andere Kinder richtige Partys feierten, mit Schulfreunden, Spielen und Geschenken, hockte Peggy mit ein paar Erwachsenen, die nichts weiter für sie vorbereitet hatten, um den Tisch herum. Ein Stück Kuchen gab es, mehr nicht. Peggys »Gäste« waren Susanne, Ahmet und die Kaisers, die ihren damaligen Untermieter mitbrachten, einen Kollegen von Maik.
*
Zwei Tage nach Peggys Geburtstag begannen die Osterferien. Die letzten Wochen brachen an, bevor sie für immer verschwand, und es ist ein bisschen beklemmend, dass nie wirklich geklärt werden konnte, wie Peggy ihr letztes Ostern verbrachte. Die Polizei führte dazu viele Verhöre, aber die erbrachten Widersprüchliches.
So sagte etwa Peggys Urgroßmutter aus, Susanne habe ihre beiden Töchter in der Woche vor Ostern nach Schwarzenbach gefahren. Am Gründonnerstag habe sie die Kinder wieder abgeholt, Karsamstag zurückgebracht, um sie schließlich am Ostermontag erneut einzusammeln. Welche Gründe dieses Hin und Her hatte und ob es tatsächlich so stattgefunden hatte, konnten die Beamten nicht in Erfahrung bringen. Denn Susannes Vater sagte, die Kinder seien die ganze Woche über ohne Unterbrechung geblieben. Ähnlich unterschiedlich waren die Aussagen über das, was sich am Ostermontag zugetragen haben soll. Peggys Tante Katrin brachte das Kind am Vormittag ins Krankenhaus, weil es sich eine Wunde am Kinn zugezogen hatte. Wie die entstanden war, darüber gibt es gleich drei Versionen. Die erste erzählte Susannes Großmutter, Peggys Uroma:
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