Der Fall Sneijder
steht wieder auf, hundert Mal führt er dieselben Bewegungen aus, um den Alarm auszulösen. Schreie. Notruf. Alarmknopf. Öffnen der Türen. Und wieder Hilfeschreie.
Schon ein ganzer Tag. Vielleicht auch zwei, wer weiß. Die Rolaids, der Durst bewirken, dass ihm sonderbare Gedanken durch den Kopf schwirren. Er hat Angst, die Tragseile könnten reißen. Angst, man könne tagelang nicht merken, dass er in der Kabine steckt. Angst, darin zu sterben. Für immer vom Bildschirm zu verschwinden. Er legt sich wieder hin. Später werden die Videokameras zeigen, dass er auf diese Weise vier Stunden lang reglos liegen geblieben ist. Er schläft zum ersten Mal. Er weiß noch nicht, dass das Wochenende vorüber ist und die Woche gerade begonnen hat. Da lässt ihn etwas hochschrecken. Aus dem Lautsprecher ertönt eine tiefe Stimme und wiederholt: »Ist da jemand, können Sie mich hören?« White springt auf und stürzt an die Gegensprechanlage: »Verflucht, holt mich hier raus.« Die Rettung wird in die Wege geleitet. Währenddessen fragt die Stimme White, ob er etwas möchte. Und White erwidert, ja, ein Bier.
In der Eingangshalle des Hochhauses sind die Fernsehjournalisten bereits versammelt. Alle wollen ihn interviewen. White schweigt, er wird von einem Wachmann zu seinem Büro geleitet, nimmt sein Jackett, packt seine Sachen zusammen und geht nach Haus. Er wird nie wieder in die dreiundvierzigste Etage dieses Hochhauses fahren. Er wird auch nie mehr für Business Week arbeiten. Er ist wütend auf seine Kollegen, die ihn an jenem Freitagabend einfach vergessen haben, wütend, dass sie ihr Leben weitergelebt haben. Wütend auf die acht Wachleute, die sich vor den Bildschirmen abgelöst haben, ohne ihn zu bemerken. Er ist wütend auf die Wartungsfirma des Hochhauses, die so inkompetent und fahrlässig war. Er ist wütend auf all jene, die Aufzüge mit ihren abgeknabberten Fingernägeln verschmutzen.
Innerhalb weniger Tage wird White zu einer kleinen Berühmtheit, man reicht ihn in New York von einem Fernsehstudio zum anderen weiter. Dort erzählt er Hunderte Male von seiner bewegungslosen Reise und arbeitet an seiner Legende. Am Ende zieht er sich auf unverrückbare Positionen zurück und strengt einen Prozess voll Forderungen an.
Er weigert sich, seine Arbeit wieder aufzunehmen, denn er fürchtet, sein Trauma und der erlittene Schaden würden daraufhin nicht in ihrem vollen Ausmaß anerkannt. Er sucht sich einen furchtlosen Anwalt, fordert fünfundzwanzig Millionen Dollar von der Wartungsfirma des Hochhauses und verschwindet für acht Wochen in den Urlaub, nach Anguilla. Bei seiner Rückkehr verzichtet er auf die Fortsetzung des Prozesses und lässt sich auf eine Überweisung von unter einer Million Dollar ein.
Und dann? Er gibt sein Geld aus, ist bald mittellos, verliertseine Wohnung, die letzten ihm verbliebenen Freunde und auch die Hoffnung, jemals wieder eine Arbeit zu finden, die mit der bei Business Week auch nur vergleichbar wäre. Bis heute hat er keine Arbeit. Wenn man mit ihm über seine Geschichte spricht, sagt er bloß: »Als ich an jenem Abend in den Aufzug gestiegen bin, war ich ein Mann wie jeder andere, mit Zukunftsplänen und einem Leben, das klare Konturen hatte. Als ich einige Tage später herausgekommen bin, wusste ich nicht mehr, wer ich war, noch was ich in dieser Eingangshalle tat, noch was die Zukunft für mich bereithielt.«
Ich liege im Bett und kann nicht schlafen. Ich frage mich, was White um diese Zeit treiben mag. Ob er schläft oder Rolaids nimmt, um seine Magensäure zu regulieren. Verglichen mit dem, was uns in der Rue Saint-Antoine zugestoßen ist, ist seine Geschichte eine Lappalie. Und doch berührt sie mich auf unerklärliche Weise. Sie lässt mich an Wagner-Leblonds Bemerkung denken. »Der Aufzug ist das Kernstück des Ganzen. Er wird Ihr Leben vereinfachen oder zur Hölle machen.«
Anna schläft tief und fest. Es ist schon so lange her, seit wir das letzte Mal Sex miteinander hatten, dass es mir zugegebenermaßen schwerfällt, mir vorzustellen, wie sie den Kerl aus Ontario in sich einsaugt. Obwohl es angesichts der Mengen an Geflügel, die ich in den letzten zwei Jahren verzehrt habe, keinen Zweifel gibt, dass die zwei sich bestens verstehen.
Durch das Fenster sehe ich die Zweige einer Eiche und dahinter, verschwommen hinter einem Regenvorhang, die Lichter der Straße. Anna hat manchmal kleine Atemaussetzer, die in ein leichtes Schnarchen münden. Manchmal hoffe ich, dass sie nicht
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