Der Fall Sneijder
wieder mit dem Atmen einsetzt, dass ihreBrust und ihr Leben für immer in der Schwebe verharren. Ich würde die sich daraus ergebenden Folgen wirklich genießen. Meinen trauernden Söhnen würde ich bereits beim Aussteigen aus dem Flugzeug so etwas sagen wie: »Eure Mutter ist an einer nosokomialen Krankheit gestorben«, was an sich schon ziemlich widerwärtig ist. Dann würde ich ihnen mit herrlich niedergeschlagener Miene die goldene Urne mit der noch warmen Asche überreichen, wie ein Freilandhuhn: »Frisch aus dem Ofen«. Schließlich würde ich mir ansehen, wie meine dümmlich dreinschauenden, von der Trauer überwältigten Zwillinge synchron in Tränen ausbrachen, ja ich würde mir ansehen, wie meine Söhne zum ersten Mal in ihrem Leben menschliche Züge bekamen.
Anna atmet ganz normal. Sie wird hundert Jahre alt werden, wie alle Menschen, die sich nicht unnötig mit Gefühlen herumschlagen und aufs Leben einen ähnlich praktischen Zugriff haben wie auf einen Werkzeugkasten. Für jedes Problem gibt es eine Lösung, alles lässt sich regeln, genau zu diesem Zweck wurden der Allen-Schlüssel und der Philips-Schraubenzieher erfunden. Ebenso die Spracherkennung. Damit ist alles gesagt.
Ich weiß nicht, ob ich heute Nacht Schlaf finden werde bei all den Gedanken, Erinnerungen, Geschichten, die gleichzeitig über mich hereinbrechen. Man sollte ohne Schlaf auskommen können. Man vergeudet nur Zeit damit.
Vor zwei Tagen hatte ich einen meiner Enkel am Telefon. Zunächst erzählte er mir allerlei uninteressante Geschichten, doch dann versuchte er es, vermutlich auf das Drängen seiner Mutter hin, die wie eine Hummel um den Hörer schwirrte, mit ein paar höflichen Fragen.
»Bist du noch im Krankenhaus?«
»Nein, das ist vorbei.«
»Dann tut dir also nichts mehr weh?«
»Nein, nichts.«
»Wie alt bist du?«
»Sechzig.«
»Und wann wirst du sterben?«
Eine solche Frage bekommt man selten gestellt. Ich fand den Verlauf unseres Gesprächs durchaus logisch, trotzdem wusste ich an der Stelle nicht, was ich antworten sollte. Im selben Augenblick hatte ich auch schon die mütterliche Hummel am Apparat, die offensichtlich bemüht war, die Form zu wahren.
Wie viele Jahre hat White noch zu leben? Hätte er mit vierunddreißig in den dreiundvierzigsten Stock hinauffahren, seinen Computer anschalten und sich wieder auf seinen Bürostuhl setzen sollen, als ob nichts geschehen wäre? Hätte er die Einladung seiner Kollegen zu einem Baseballspiel annehmen sollen, um die abgeknabberten Fingernägel zu vergessen? Und, warum nicht, eines Tages mit dem Abteilungsleiter essen gehen, der im Zuge der Ermittlungen auf den Videos gesehen hatte, wie er auf seinen Schuhen geschlafen und im dreizehnten Stock an die Wand gepinkelt hatte? Unser Leben nimmt manchmal einen merkwürdigen Verlauf. Und die Aufzüge verfügen über seltsame Kräfte. Mal reißen sie einen mit in die Tiefe. Und mal zerstören sie ein ganzes Leben, indem sie einen nur für ein paar Stunden in ihrem schützenden Schoß behalten.
VIER
Ich verbringe viel Zeit damit, die Stellenanzeigen zu durchforsten. Da ich nur gering qualifiziert bin und wegen meiner Angstattacken neuerdings keine Büroaufgaben mehr übernehmen kann, habe ich keine große Auswahl. Zumal es nicht sonderlich angebracht wäre, Bell Mobilité oder Fido Cellulaire meine Telefon-Wartemusik anzubieten. Und außerdem, muss ich zugeben, stellt mein Alter ein nicht gerade geringes Handikap dar.
Aber trotz der Schwierigkeiten habe ich am Ende etwas gefunden. Einen Beruf – falls man eine derartige Beschäftigung überhaupt als Beruf bezeichnen kann –, der normalerweise von Studenten oder jungen Leuten ausgeübt wird, die ihr Gehalt aufbessern wollen. Ein paar Formulierungen in der auf Französisch verfassten und ins Englische übersetzten Anzeige erinnerten mich an die Forderungen, die Hydro Québec an seine Zählerableser stellte: »Hundeausführer / Dog Walker. Lange Gruppenausführungen, im Sommer wie im Winter. Alle Rassen. Erfahrung und gute Kenntnisse der Tiere erwünscht. Service und Kundenberatung. Zusatzverdienste bei Wettbewerben an Wochenenden als Handler. Kontakt: DogDogWalk / Ile des Sœurs.«
Dog Walker ist in Frankreich keine sonderlich verbreiteteTätigkeit. Von ein paar wenigen Firmen abgesehen, die sich in den Großstädten niedergelassen haben, hat sich diese typisch angelsächsische Dienstleistung auf dem alten Kontinent nicht durchgesetzt; so sieht man in unseren Parks und
Weitere Kostenlose Bücher