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Der Fall Sneijder

Der Fall Sneijder

Titel: Der Fall Sneijder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Paul Dubois
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ein Epos über das Unternehmen Otis sowie technische Erläuterungen zur Funktionsweise der Hydraulik- und Seilaufzüge. Dabei stieß ich auf eine eigenartige Geschichte: den Bericht von einem Unfall, der sich am 6. März 2010 ereignet hatte und in den der damals achtzigjährige Sir Stirling Moss, einer der berühmtesten englischen Rennfahreraller Zeiten, verwickelt worden war. Dieser Mann hatte alle Rennen gewonnen, ob im Jaguar, im BRM oder im Lotus Climax. Dieser Archetyp eines britischen Gentleman hatte genau wie sein Zeitgenosse, der mythische Graham Hill, eine Reihe brutaler Unfälle überlebt, bei denen er, wie in Goodwood, von der Strecke abgekommen war. Einen Großteil seines Lebens hatte er damit verbracht, den Tod auszutricksen. Doch der Zufall wollte es, dass ihn der Tod in einem Augenblick überrumpelte, da er sich nicht vor ihm in Acht genommen hatte.
    An jenem Samstag im März hatte Moss seine Londoner Wohnung bei Einbruch der Dunkelheit verlassen. Er schloss die Haustür hinter sich und drückte am Ende des Flurs auf den Knopf, um den Aufzug zu rufen. Als sich die Schiebetüren öffneten, machte er einen Schritt nach vorn. Doch die Fahrkabine war vier Etagen tiefer stecken geblieben. Sein Fuß trat ins Leere, und er stürzte wie ein Stein zehn Meter in die Tiefe. Man fand ihn bewusstlos auf dem Dach der Maschine liegen, mit zwei kaputten Knöcheln, vier gebrochenen Wirbeln und noch weiteren gesplitterten Knochen. Wie soll man sich ein derartiges Versagen der Maschine und das unzeitige Öffnen der Türen über einem Abgrund erklären? Aus dem Bericht ging dazu nichts hervor. Es wurde allerdings erwähnt, dass Stirling Moss seinen Sturz überlebt hatte. Dieser Unfall brachte uns einander näher und knüpfte ein unsichtbares Band zwischen uns.
    Meine Neugier war jedenfalls geweckt, und so recherchierte ich als Nächstes, was aus seinem Alter Ego, Graham Hill, geworden war. Ich fand heraus, dass er weniger Glück gehabt hatte. Er, der beim Autorennen manchmal vergaß, denSicherheitsgurt anzulegen, und sich beide Beine gebrochen hatte, nachdem er mehrfach aus seinem Einsitzer katapultiert worden war, war nach seinem Rückzug vom Sport am 29. November 1975 in Arkley, England, in einem kleinen Tourismusflugzeug ums Leben gekommen. Eine technische Panne. Er war am Boden zerschellt. Auch er, vom Himmel gefallen.

FÜNF
    Am Montagmorgen verließ Anna das Haus, ohne auch nur ein Wort mit mir gewechselt zu haben. Ich hörte sie ins Auto steigen, die Tür zuknallen und vernahm dann das Motorengeräusch, das sich allmählich entfernte und schließlich mit dem morgendlichen Verkehrslärm verschmolz.
    Während der gesamten Busfahrt dachte ich an Graham Hill und Stirling Moss und an alles, was sie unternommen und riskiert hatten, um ihren eigenen kleinen Mile High Illinois zu errichten. Auch sagte ich mir, dass ich niemals das Bedürfnis verspürt hatte, etwas zu entwerfen, das mich auch nur ein kleines Stück überragte.
    Charisteas erwartete mich ungeduldig. Die Armbanduhr flatterte noch schneller als sonst um sein Handgelenk: Er brannte darauf, mich in die Grundlagen des Berufs einzuführen. Sein kostbares, mit Primzahlen gefülltes schwarzes Heft lag unauffällig auf dem Schreibtisch. Die Zahlen 2 216 122 und 2 347 432 hingegen prangten überdeutlich auf dem Dienstplan, wo sie mit einem Filzstift eingetragen worden waren und ihre offensichtliche Umkehrbarkeit zur Schau trugen. Charisteas hielt sich für ihren Erfinder; er glaubte, sie erschaffen und aus der unermesslichen Anonymität bloßer Zahlenfolgen gerissen zu haben. Und wie alle Künstler stellteer seine Werke aus und pries gegenüber jedem, der es hören wollte, ihre Palindromform.
    Er schickte zwei Equipagen – so nannte er das Gespann von Dog Walker und Hunden – zum Spaziergang. Die Routen schienen festgelegt zu sein. Dann wandte er sich mir zu, um mit der Unterweisung zu beginnen. Bevor er das erste Wort sagen konnte, stellte ich mich vor den Dienstplan, starrte auf die beiden magischen Zahlen und sagte mit einer gewissen Listigkeit, die eigentlich untypisch für mich war: »Herrlich«, wobei ich den Blick nicht von dem großen Werk ließ, als handelte es sich dabei um einen Otto Dix oder einen Frank Auerbach. Charisteas kam näher, warf ebenfalls einen Blick auf diese Kombinatorik, die bestenfalls darauf hoffen konnte, eines Tages als Telefonnummer Verwendung zu finden, und murmelte dann: »Ich glaube, wir werden ein gutes Team.« Wir verharrten

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