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Der Fall Sneijder

Der Fall Sneijder

Titel: Der Fall Sneijder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Paul Dubois
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in einem hermetisch geschlossenen System geworden, das wir fraglos akzeptieren, ohne es je geliebt zu haben.
    Wenn man abends aus dem Bus steigt, ist der Fahrstuhl schon da, er erwartet uns im Erdgeschoss des Hochhauses. Und jeden Morgen bringt er uns unweigerlich zu unserem Ausgangspunkt zurück. Er erledigt seine Kompressionsarbeit.
    Ich dachte bei mir, dass die einzige Möglichkeit, diese Welt aus dem Takt zu bringen, darin bestand, die Fahrstühle zu blockieren, ihr ständiges Kommen und Gehen zu stoppen. Eine Thrombose auszulösen. Den Fluss aufzuhalten. Den Transit zu unterbrechen. Ein unbeweglicher Aufzug ist ein neutralisierter Neurotransmitter. Eine Kanone ohne Pulver. Wenn der Aufzug tatsächlich das Herzstück dieser Welt darstellt, kann man ihn nur stoppen und zur Vernunft bringen, wenn man seine Nervenbahnen lahmlegt, seine Tragseile durchschneidet. Auch hier weiß ich, wovon ich rede. Ich hatte schon Gelegenheit, am eigenen Leib zu erfahren, mitwelch schwindelerregender Geschwindigkeit man in diesem Fall auf den Boden der Tatsachen zurückkehrt.
    Bei dieser symbolischen Behandlung würde die Welt schon nach wenigen Wochen, ihres gewohnten Lebenssaftes und ihrer stählernen Kolben beraubt, rasch an Höhe, an Hochmut verlieren und wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen. Von der einstigen Vertikalität bliebe nichts übrig als ein paar hinfällige Überreste; leere Füllhörner, an denen der Zahn der Zeit und der Wind nagen.
    Nicholas White ist auf die Verliererseite gewechselt, weil der Aufzug sein Leben blockiert, es lahmgelegt hat. Diesen Aspekt der Geschichte darf man nicht aus den Augen verlieren.
    Bei Marie liegt die Sache freilich anders.
    Vor dem Zubettgehen ging ich hinunter in die Küche, um einen Happen zu essen. Ich machte mir einen Toast und bestrich ihn mit Schwarzkirschkonfitüre. Das Brot in meinem Mund machte dasselbe Geräusch wie der frisch gefallene knirschende Schnee. Die Süße der Schattenmorellen breitete sich auf meiner Zunge aus, und alles, was ich eben noch gedacht, gelesen und gefühlt hatte, war mit einem Mal bedeutungslos. Beim Essen kommt es vor, dass ich alles vergesse.
    Ich hatte Mühe einzuschlafen. Zu viele Nächte hatte ich an meinem Schreibtisch verbracht. Aber mir war, als machte ich langsam Fortschritte. Selbst wenn ich im Dunkeln umhertastete. Ich erhoffte mir etwas von dieser Arbeit, selbst wenn am Ende nur ein schwaches Leuchten stünde, ganz nach dem Motto der Seefahrer, das mich immer geleitet hat: »Jedes noch so winzige Licht ist besser als die Finsternis.« An diesem Abend hatte ich im Labyrinth meines Abgrunds einen Schrittnach vorn getan. Ich hatte begriffen, dass ich in der Annahme, den Aufbau der Aufzüge zu erforschen, in Wahrheit die Architektur der Welt bloßlegte.
    Aus naheliegenden Gründen konnte ich mit Anna nicht über dieses Thema sprechen. Ebenso wenig mit Walcott, der sich nur für sein iPhone und meine möglichen Kopfschmerzen interessierte. Charisteas, der nur für seine Zahlen lebte, hätte mich für einen hochgradigen Fantasten gehalten. Blieb nur noch Wagner-Leblond. Meine Betrachtungen würden ihn natürlich nichts Neues lehren. Aber in einem war ich mir sicher, er würde mich in geschickter Manier von meinen Obsessionen befreien, indem er eine seiner spöttischen Bemerkungen machen würde: »Wissen Sie, warum ich die Gärten so liebe und alles daransetze, so viel Zeit wie möglich darin zu verbringen? Weil ich weiß, wie gering das Risiko ist, dass ich bei meinen Spaziergängen auf einen Fahrstuhl stoße.«
    Die ganze Nacht über hatte es geschneit. Draußen sprühten die Schneepflüge ihre weißen Fontänen auf die Bürgersteige. Anna war mit ihrem Subaru Vierradantrieb aufgebrochen und hatte mir gar nicht erst angeboten, mich abzusetzen. Schon seit Jahren hatte ich kein eigenes Auto mehr. Sicherlich hoffte meine Frau, dass die Kälte und die Wiederholung der endlosen Busfahrten mich von meinem Entschluss abbringen würden. An der Bushaltestelle war ich der einzige Fahrgast.
    »Ah, Paul, ich habe schon auf Sie gewartet, ich muss mit Ihnen reden. Kommen Sie in mein Büro.«
    Hochnervös fingerte Charisteas an seinem Uhrarmband und ließ es wie ein Komboloi kreisen. Dabei trat er von einemFuß auf den anderen wie ein Kind, das dringend Pipi muss.
    »Nun … also, was ich sagen möchte … ist … ich weiß jetzt, wer Sie sind.«
    »Was meinen Sie damit, wer ich bin …«
    »Sie sind nicht irgendwer. Sie sind der Mann aus dem Fahrstuhl.

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