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Der Fall Sneijder

Der Fall Sneijder

Titel: Der Fall Sneijder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Paul Dubois
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kulturellen Fermente, die an die Urbanität geknüpft sind, würden sich auflösen. Die Bevölkerung würde sich ausbreiten, sich wie eine Öllache über den gesamten Planeten verteilen, und die Leute verbrächten ihr Leben in öffentlichen Verkehrsmitteln.«
    Ich las den Text ein zweites Mal. Eine neue Welt entstand vor meinen Augen, eine Welt, die nach den Regeln eines weitflächigen Städtebaus errichtet worden war und sich gewissradikal von der unsrigen unterschied, ohne deswegen schlimmer zu sein; eine abgehobelte, moderate Welt, die auf ein menschliches Maß zurückgestutzt war. In ihrer Einfachheit präsentierte sie sich wie eine skurrile Science-Fiction-Landschaft, vielleicht die radikalste, die sich meinem Geist jemals dargeboten hatte. Vielleicht hätte sich diese Art von Städtebau durchgesetzt, wenn die Aufzüge, diese mächtigen, im Hintergrund waltenden Schöpfer, unser Leben nicht nach ihren eigenen Gesetzen und Erfordernissen entworfen und gestaltet hätten.
    Die Wirklichkeit war nicht mehr dieselbe, wenn man sie von einer Fahrstuhlkabine aus betrachtete.
    Die Vertikalität war omnipräsent.
    Sie bildete die exklusive Städtenorm.
    Der Aufzug, Urheber dieser Ordnung, trat an die Stelle des Einheitsdenkens, er diente als Wirbelsäule, als schlagendes Herz, als stählerne Lunge. Kein anderer Gegenstand hatte das Antlitz der Welt so verändert wie er. Mehr als alles andere bildete er den Kern des Systems, erhielt es aufrecht, erfüllte es mit Leben. Wagner-Leblond hatte recht. Zuerst baut man den Aufzug, dann umgibt man ihn mit einem Gebäude, um das Gestänge und die Maschinen zu verhüllen, und schließlich setzt man Leute hinein, die abends im Innern Licht einschalten, um dem Ganzen ein wenig Leben einzuhauchen. Im Herzen dieses städtischen Aggregats wohnen die Aufzüge, sie geben den Takt an, sie ziehen die Strippen.
    Wir alle sind ihnen in mehr oder weniger hohem Maße zu Dank verpflichtet. Für jede Kleinigkeit brauchen wir sie, jeden einzelnen Tag. Und dabei glauben wir, sie zu bedienen, obwohl sie uns seit Langem unterworfen haben.
    Natürlich habe ich niemals ernsthaft angenommen, irgendjemand hätte sich die subtile Mechanik dieses Systems bewusst und methodisch ausgedacht. Es hat sich von selbst ergeben, hat seine eigene Logik generiert. Der Fahrstuhl gehört nicht in die Kategorie der Gegenstände, die das Leben bequemer machen sollen. Er bietet weit mehr als das. Er ist das mechanische Wunder, das den Städten eines Tages erlaubt hat, sich auf die Hinterbeine zu stellen und sich aufzurichten. Er hat die Vertikalität erfunden, die großen architektonischen Orgeln, aber auch die vielen degenerativen Erkrankungen, die auf sie zurückzuführen sind.
    Otis hat den ersten Schritt gemacht. Daraufhin haben Architekten Basiliken aus Glas und Stahl gebaut, moderne Kathedralen, deren Turmspitzen immer höher in den Himmel ragten. Während dieses Wettlaufs um die Reichtümer erhoben sich auf allen Kontinenten unserer Erde riesige Wachtürme – überall, wo der Geldfluss ausreichte, um die tiefen Schlünde der gigantischen Aufzüge zu schmieren.
    Sie haben die Entstehung von Megalopolen ermöglicht, in denen sich Millionen und Abermillionen von Einwohnern tummeln. Diese unsinnige Dichte hat ein neues Leben generiert, in dem sich eine völlig andere Zeit, unerhörte Rhythmen und absurde Reglementierungen durchgesetzt haben. So hat man den Menschen beigebracht, die Losungen ihrer Hunde aufzusammeln. Ihre dampfenden Fäkalien zu ernten.
    Was früher weit verstreut lag, konzentriert sich heute auf engem Raum. Wir müssen auf alles achten, unsere Gewohnheiten hinterfragen. Wenn man allzu eng zusammengepfercht lebt, passiert es schnell, dass die Tiere durchdrehen. Und wir ihre Darmentleerungen mit beiden Händen aufheben.
    Ich weiß, wovon ich rede. All diese Dinge habe ich mein Leben lang beobachtet. Da gibt es nichts zu diskutieren.
    Die Aufzüge haben die Wolkenkratzer und das Aggregat erschaffen. Sie lassen Menschen übereinander leben und schlafen. Sie gebären kranke Städte.
    Sie haben meine Tochter umgebracht.
    Man glaubt, sie wären dazu da, einem ein paar Schritte zu ersparen, einen hinauf- und hinunterzubefördern. Doch das ist falsch. Das ist Augenwischerei. In Wahrheit führen sie uns auf jeder Reise in eine Welt ohne Ausgang, so wie früher, als die Bergleute bis ans Ende des Schachts gefahren wurden.
    In der uns gewährten Komfortzone von 0,9 Quadratmetern sind wir zu gefügigen Passagieren

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