Der falsche Apostel
Gesetz
gestattet den Aufschub einer Anhörung.«
Die fahlen Wangen des Richters verfärbten sich leicht. Er setzte zu einer Erwiderung an, als die Tür aufgerissen wurde und
eine junge Frau hereinkam. Trotz ihrer Adlernase und blässlichen Hautfarbe war sie eine gutaussehende Erscheinung. Ihre dunklen
Augen blitzten lebhaft, und das schwarze Haar gab ihr etwas Fremdländisches. Offensichtlich war sie eine Frau von Rang und
Namen.
»Was hat diese Unterbrechung des Verfahrens zu bedeuten, Rathend?« Sie erspähte Fidelma und schöpfte Verdacht. »Wer ist das
da?«
»Schwester Fidelma ist Anwältin und gekommen, um Liadin in dem Prozess zu verteidigen«, erklärte Rathend unterwürfig.
Unmut trieb der Frau die Röte ins Gesicht. »Da kommst du leider zu spät, Schwester.«
Gelassen ließ Fidelma ihren Blick über die hochmütigen Züge der Streitsüchtigen gleiten.
»Und du bist …«, fragte sie leise und erinnerte Rathend daran, dass er die Etikette verletzt hatte, woraufhin die Frau erst
recht rot wurde.
»Das ist Irnan, die Stammesfürstin der Uí Dróna«, beeilte sich der Richter zu sagen. »Du befindest dich in ihrem
rath
.«
Um Fidelmas Mundwinkel spielte ein Lächeln, sie neigte das Haupt, mehr als Würdigung des Rangs ihres Gegenübers denn aus Ehrerbietung.
»Ob ich nun zu spät oder zu früh gekommen bin, Irnan, Stammesfürstin der Uí Dróna, spielt keine Rolle. Entscheidend |374| ist, dass ich jetzt hier bin und dazu beitragen werde, dass der Gerechtigkeit Genüge getan wird.« Sie wandte sich wieder Rathend
zu. »Um mich auf Liadins Verteidigung einzustellen, muss ich die Möglichkeit haben, sie anzuhören. Deshalb benötige ich einen
Aufschub der Eröffnung des Verfahrens um vierundzwanzig Stunden.«
»Verteidigung?« Klang da blanker Hohn in Irnans Zwischenruf? »Wie kann man dieses Weib verteidigen?«
Fidelma würdigte sie kaum eines Blickes. »Ich werde dem Gericht mitteilen, dass ich die Verteidigung übernehme, sobald ich
mit Liadin habe sprechen können.«
»Der Fall ist doch völlig klar«, warf Irnan hin. »Liadin hat ihren Mann ermordet und dann noch ihren Sohn.«
»Was für einen Grund sollte sie dafür gehabt haben?«, fragte Fidelma unbeirrt.
»Sie lebten in einer arrangierten Ehe. Vielleicht hat Liadin Scoriath gehasst? Wer weiß?«, giftete die Stammesfürstin.
»Das kann als Grund kaum gelten. Sie hätte Zuflucht zum Gesetz nehmen und sich scheiden lassen können. Und warum soll sie
das Kind ermordet haben? Welche Mutter tötet schon ihr eigenes Kind? Und warum mordet sie erst nach dreieinhalb Jahren im
Aufbegehren gegen eine Zwangsehe, wie du es nennst?«
Irnans Augen funkelten wütend. Der Ton, in dem sie Fidelma antwortete, war der Ton einer Herrscherin, die keinen Widerspruch
duldete. »Nicht ich stehe hier vor Gericht, Schwester. Bilde dir nicht ein, dass ich deine Fragen beantworte.«
»Jemand wird sie aber beantworten müssen«, erklärte Fidelma ruhig und erkundigte sich bei dem Richter: »Wirst du also die
Vertagung genehmigen?«
Rathend schien sich bei Irnan vergewissern zu wollen, ehe er antwortete. Aus dem Augenwinkel sah Fidelma, dass die Fürstin |375| die Achseln zuckte. Mit einem Seufzer nickte er zustimmend.
»Gut, Schwester. Du hast vierundzwanzig Stunden, dann tritt das Gericht zusammen. Ich warne dich, die Anklage lautet auf
fingal
, Ermordung nächster Angehöriger. Sie ist in diesem Falle derart schwerwiegend, dass es nicht auf eine Wiedergutmachung in
Form des üblichen Sühnegelds hinauslaufen kann. Wenn Liadin schuldig gesprochen wird, dann wird man sie, weil sie ein so grässliches
Verbrechen begangen hat, in einem offenen Boot auf hoher See ohne Ruder, Segel, Nahrung oder Wasser aussetzen. Sollte sie
überleben und nach Gottes Willen irgendwo an Land geworfen werden, dann kann jeder, der sie findet, über ihr Leben oder ihren
Tod bestimmen. Das ist der in den Gesetzen vorgeschriebene Urteilsspruch.«
Schwester Fidelma kannte die Strafe sehr wohl, die für kapitale Mordfälle vorgesehen war. »Doch nur, wenn sie schuldig gesprochen
wird«, wiederholte sie verhalten.
Irnan lachte schallend auf. »Was mit Sicherheit der Fall sein dürfte«, höhnte sie und stürmte hinaus. Verunsichert und bekümmert
schaute ihr der Richter hinterher.
Die beiden Frauen lösten sich aus ihrer Umarmung. Besorgt schaute Fidelma ihre Freundin an. Liadin war schmächtiger als Fidelma,
hatte dichtes kastanienbraunes Haar
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