Der falsche Apostel
verhehlen.
|97| »Trotzdem, Schwester, sind die Beweise offenkundig. Man hat Fergal in seiner Hütte gefunden, die er sich an den Hängen des
Cnoc-gorm gebaut hat. Er schlief. Neben ihm lag der Leichnam von Barrdub. Man hatte das Mädchen erstochen. An Fergals Händen
und auf seiner Kleidung klebte Blut. Als man ihn weckte, behauptete er, nichts von alldem zu wissen. Das ist eine sehr schwache
Verteidigung.«
Schwester Fidelma neigte den Kopf, als wollte sie die Logik in der Aussage des Brehon anerkennen.
»Wie kam es dazu, dass man Barrdubs Leichnam fand?«
»Ihr Bruder Congal war in großer Sorge. Das Mädchen hatte sich in Bruder Fergal verliebt. Er ist ja auch ein hübscher junger
Mann, das muss man zugeben. In jener Nacht verließ, laut Congals Aussage, seine Schwester das Haus und kehrte nicht wieder
zurück. Am frühen Morgen kam Congal zu mir und bat mich, ihn zu Fergals Hütte zu begleiten, um die beiden zur Rede zu stellen.
Barrdub hat das Alter der Wahl noch nicht erreicht, verstehst du, und Congal ist ihr gesetzlicher Vormund, weil sie keine
anderen Verwandten mehr haben. Wir beide fanden Fergal und die Leiche des Mädchens, wie ich es beschrieben habe.«
Schwester Fidelma presste die Lippen aufeinander. Diese Beweise waren wahrhaftig belastend.
»Die Verhandlung findet morgen Mittag statt«, fuhr der Brehon fort. »Bruder Fergal muss sich vor dem Gesetz verantworten,
denn über die Rechtsprechung der Brehons ist niemand erhaben, weder Priester noch Druiden.«
Schwester Fidelma lächelte schwach.
»Dank dem heiligen Patrick sind nun schon zwei Jahrhunderte verronnen, seit die Druiden die Lehren des Heilands dieser Welt
angenommen haben.«
Der Brehon erwiderte ihr Lächeln.
|98| »Und doch sagt man, dass viele, die in den Bergen oder in abgelegenen Burgen leben, noch dem alten Glauben anhängen. Dass
es unzählige Menschen gibt, die sich durch die Lehre Christi nicht von der Verehrung des Dagda und der alten Götter Irlands
haben abbringen lassen. Auch in unserer Gegend haben wir so einen. Erca, der Einsiedler, haust am Cnoc-gorm und schwört auf
die alten Riten.«
Schwester Fidelma zuckte gleichgültig mit den Achseln.
»Ich bin nicht zum Missionieren hergekommen.«
Der Brehon musterte sie eingehend.
»Was ist dann in dieser Angelegenheit deine Rolle, Schwester? Vertrittst du die Abtei, die, wenn ich es recht verstehe, nun
Bruder Fergals Familie ist? Vergiss nicht, das Gesetz fordert, dass die Familie für das Sühnegeld einstehen muss, nachdem
das Gericht sein Urteil gefällt hat.«
»Ich kenne das Gesetz, Brehon der Eóghanacht«, erwiderte Schwester Fidelma. »Die Äbtissin hat mich in meiner Eigenschaft als
dálaigh
hierhergeschickt. Ich soll als Anwältin Bruder Fergal vor Gericht vertreten.«
Der Brehon zog leicht überrascht eine Augenbraue hoch. Als die junge Frau zu ihm gekommen war, hatte er sie einfach für ein
Mitglied von Bruder Fergals Gemeinschaft gehalten. Er glaubte, man hätte sie geschickt, weil man herausfinden wollte, warum
man ihn verhaftet und des Mordes angeklagt hatte.
»Das Gesetz verlangt von allen Anwälten die entsprechende Qualifikation, damit sie eine Sache vor dem
Dál
vertreten können.«
Schwester Fidelma richtete sich zu ihrer vollen Größe auf. Inzwischen war sie leicht verärgert über den herablassenden Ton
und die arroganten Unterstellungen des Mannes.
»Ich besitze die notwendigen Abschlüsse. Ich habe bei dem großen Brehon Morann von Tara Jurisprudenz studiert.«
|99| Wieder einmal konnte der Brehon seine Verwunderung kaum verbergen. Dass dieses junge Ding, das da vor ihm stand, ein Studium
der Rechte von Éireann absolviert haben sollte, war in seinen Augen höchst erstaunlich. Gerade wollte er den Mund aufmachen,
als die junge Frau seiner Frage zuvorkam, indem sie in die Falten ihres Gewandes griff und ihm ein beschriebenes Pergament
überreichte. Der Brehon überflog es mit staunend aufgerissenen Augen, zögerte noch ein wenig und gab es ihr zurück. Nun war
sein Blick respektvoll, seine Stimme gar ein wenig ehrfürchtig.
»Da steht, dass du eine anerkannte
anruth
bist.«
Ehe man den Rang einer
anruth
erreichen konnte, musste man zwischen sieben und neun Jahren an einer Kloster- oder Bardenschule studiert haben. Als
anruth
war man nur eine Stufe unter dem höchsten Rang, dem eines
ollamh
oder Professors, der den gleichen Stand wie ein König besaß. Als
anruth
musste man umfassendes Wissen über
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