Der falsche Apostel
Hand etwas länger fest als schicklich und suchte ihren Blick.
»Und mein Bericht, Schwester?«
Sie drehte sich um und begann den Abstieg. Auf der obersten Leitersprosse blieb sie kurz stehen. Zwar war er ein eingebildeter
Bursche, aber sie durfte nicht weiter mit ihm Katz und Maus spielen.
»Es ist, wie du gesagt hast, Fogartach, der Fall liegt eindeutig. Äbtissin Cuimne ist gestrauchelt und zu Tode gestürzt. Ein
tragischer Unfall.«
Das Gesicht des
bó-aire
entspannte sich. Zum ersten Mal zeigte er ein Lächeln, und er hob die Hand zum Gruß.
»Ich hab durch dich manches hinzugelernt,
anruth
am Gerichtshof der Brehons«, rief er ihr etwas steif zu. »Gott möge dich auf deiner Reise schützen, auf dass du wohlbehalten
dein Ziel erreichst!«
Schwester Fidelma lächelte zurück und hob gleichfalls die Hand. »Jedes erreichte Ziel ist nur das Tor zum nächsten, Fogartach«,
rief sie, lachte verschmitzt, stieg die Leiter hinab und sprang ins Heck des sanft schaukelnden Bootes.
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|165| EIN LOBGESANG FÜR WULFSTAN
Abt Laisran strahlte. Er war ein kleiner, rundlicher Mann mit roten Wangen, und sein Gesicht sah immer fröhlich aus. Denn
er war mit der seltenen Gabe des Humors und der Vorstellung geboren, die Welt sei ihren Bewohnern zur Freude geschaffen. Sein
Lächeln kam aus tiefstem Inneren. Und wenn er lachte, schien die Erde zu beben.
»Wie schön, dich wiederzusehen, Fidelma!«, dröhnte Laisrans Stimme. Man hörte, dass dies keine leeren Worte waren, sondern
dass er sich ehrlich über ihre Begegnung freute.
Schwester Fidelma reagierte mit einem beinahe spitzbübischen Grinsen, das nicht recht zu ihrer Ordenstracht und ihrem Rang
passen wollte. Wer die junge Frau näher betrachtete und das rote Haar sah, das unter ihrer Haube hervorquoll, wer das Lachen,
das ständig in ihren grünen Augen aufblitzte, und die natürliche Fröhlichkeit auf ihrem frischen, hübschen Gesicht bemerkte,
dem konnte sich tatsächlich die Frage aufdrängen, warum eine so attraktive junge Frau sich für das Leben einer Nonne entschieden
hatte. Ihre hoch aufgeschossene, wohlproportionierte Figur schien ein Verlangen nach einem weit aktiveren Leben auszudrücken,
als es in einem Kloster möglich war.
»Es tut auch mir gut, dich wiederzusehen, Laisran. Es ist mir immer ein Vergnügen, nach Durrow zu kommen.«
|166| Abt Laisran streckte beide Arme aus und umfasste Fidelmas Hand zum Gruß, denn sie waren alte Freunde. Laisran kannte Fidelma,
seit sie das Alter der Wahl erreicht hatte. Er war es gewesen, der sie dazu überredet hatte, das Studium der Rechte beim Brehon
Morann von Tara aufzunehmen. Mehr noch, er hatte sie auch davon überzeugt, ihre Studien so lange fortzuführen, bis sie ihren
Abschluss als
anruth
gemacht hatte. Und es war auch Laisran gewesen, der ihr geraten hatte, sich der Gemeinschaft der Brigid in Kildare anzuschließen,
nachdem man sie als
dálaigh
zugelassen hatte. In alten Zeiten, ehe das Licht Christi die Ufer von Éireann erreichte, waren alle Menschen, die hohe Ämter
bekleideten, Druiden gewesen. Nachdem die Macht von den Druiden auf die Priester und Ordensgemeinschaften Christi übergegangen
war, schlossen sich die Angehörigen der gehobenen Berufe den neuen heiligen Orden an, genau wie es in alten Zeiten Brauch
gewesen war.
»Bleibst du lange bei uns?«, fragte Laisran.
Fidelma schüttelte den Kopf.
»Ich bin unterwegs zum Schrein des heiligen Patrick in Ard Macha.«
»Nun, du musst auf jeden Fall bei uns übernachten und heute mit uns zu Abend essen. Ich habe so lange keine angeregte Unterhaltung
mehr geführt.«
Fidelma lächelte vergnügt.
»Du bist der Abt eines der berühmtesten Klöster der Gelehrsamkeit in ganz Irland. Professoren aller möglichen Disziplinen
wohnen hier, dazu noch Studenten aus allen vier Himmelsrichtungen. Wie kann es dir da an angeregter Unterhaltung fehlen?«
Laisran lachte glucksend.
»Diese Professoren neigen dazu, einem Vorlesungen zu halten, da ergibt sich kaum mal ein Dialog. Wie öde solche Monologe |167| sein können! Manchmal entdecke ich mehr Intelligenz bei unseren Studenten.«
Das große Kloster lag auf einer von Eichen bewachsenen Ebene, und die Bäume hatten ihm den Namen Durrow gegeben. Es war kaum
ein Jahrhundert alt, aber schon jetzt hatte sich sein Ruhm als Universität unter vielen Völkern Europas verbreitet. Aus unzähligen
Ländern kamen die Studenten in hellen Scharen auf die Insel der
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