Der falsche Auserwählte (Ein Artesian Roman) (German Edition)
hatte, so dass er sie kaum noch wahrnahm. „Höre!“, murmelte er unablässig und es klang wie eine Aufforderung, sich an Vergessenes wieder zu erinnern. „Höre!“
Je länger er mit geschlossenen Augen dasaß, um so deutlicher vernahm er die Geräusche, die ihn mit unterschiedlicher Stärke erreichten. Darunter aber lag verborgen und kaum wahrnehmbar eine eigenartige Melodie. Als er glaubte, erste zusammenhängende Töne ausgemacht zu haben, summte er, der Vorgabe folgend, leise und unsicher mit, bis sein sanftes Summen mit den unterschwelligen Tönen des Waldes übereinstimmte. Bedächtig erhob er sich. Mit geschlossenen Augen schritt er andächtig zwischen den Bäumen hindurch und folgte dem eigenartigen Wohlklang. Äste und herabhängende Zweige bogen sich nach oben und zur Seite, wenn er sie erreichte. Wie ein Nachtwandler fand er sicher und unbeschadet seinen Weg durch dicht stehende Bäume und Büsche und über Farne und Flechten hinweg. Begleitet vom Baumgesang, der beständig lauter und deutlicher wurde, schritt er weiter aus. Schließlich zögerte er und blieb stehen. Er öffnete seine Augen. Vor ihm lag eine breite Schneise. Nur wenige Meter entfernt wuchs ein Baumspalier in den Himmel hinauf, das bis zum Horizont reichte. Zwischen den sich gegenüberstehenden Bäumen verlief ein gerader Weg, ähnlich einer schmalen Straße. Kwin hatte den Ort seiner Prüfung erreicht.
Er rief Twist herbei und kniete sich an seine Seite. „Ich muss dort alleine hineingehen. Du wirst hier auf meine Rückkehr warten. Wenn ich nicht zurückkomme, dann lauf zu Rodgatt. Er wird dir helfen.“
Kwin erhob sich und bedachte Twist mit einem prüfenden Blick. Als er sicher war, dass der Hund ihm nicht folgen würde, betrat er den Weg. Ein letztes Mal sah er zurück. Twist saß noch immer am Waldrand und sah ihm scheinbar ungerührt hinterher. Kwin hob die Hand und tat den letzten, entscheidenden Schritt, bis er genau zwischen den beiden ersten Bäumen stand und fragte sich besorgt, was als nächstes passieren würde.
„Was bist du?“, fragte die Kastanie zu seiner rechten.
„Sprich, und du bist frei. Schweige oder fehle und du wirst wie wir“, sagte die Kastanie zu seiner linken.
Kwin stand starr und unbeweglich zwischen den Kastanien und sammelte seinen Mut. Er hatte wohl gewusst, dass sein Leben auf dem Spiel stand, aber so unvermittelt eine Todesdrohung zu erhalten, nahm ihm den Atem.
Kwin Bohnthal, wollte er antworten, Tischlermeister des wahren Handwerks, Baumbehüter und Baumfreund, Bewahrer der letzten Geheimnisse. All diese Gedanken gingen ihm durch den Sinn, doch etwas ließ ihn zögern. Diese Erklärung hatte er im Nachtwald mehrmals gegeben und jedes Mal hatte er das Gegenteil von dem erreicht, was er hatte erreichen wollen. Die Rückschläge, die er im Talikon hatte einstecken müssen, waren schmerzlich gewesen. Was also war er, wenn sein Name, sein Handwerk, seine Ehrennamen und Ehrentitel nicht ausreichten.
Im Augenblick wollte er nur eins: diesen Ort so schnell wie möglich wieder verlassen. Immerhin, das wäre eine stimmige Erwiderung, die auch Rodgatt gefallen würde. Ohne weiter darüber nachzudenken, sagte er: „Wissbegierig bin ich. Mein Wesen ist die Ungeduld. Warten ist mir verhasst.“ Kwin stand regungslos.
Dann sprachen die Kastanien wie mit einer Stimme: „Geh!“
Erleichtert trat er aus ihrem Schatten heraus und erreichte gleich darauf zwei Buchen.
„Wer ist dein Feind?“, fragte die Buche zu seiner Rechten.
„Sprich, und du bist frei. Schweige oder fehle und du wirst wie wir“, sagte die Buche zu seiner linken.
Kwin war überrascht. Habe ich denn Feinde, fragte er sich still? Nein. Er kannte niemandem, der ihm nach dem Leben trachtete, außer Pretorius natürlich, aber der war jedermanns Feind. Auch sonst war ihm niemand feindlich gesonnen. Und er hegte gewiss keinen tieferen Zorn gegen andere.
„Ich bin stolz und zugleich nachsichtig. Feinde mache ich mir keine. Aber zumindest einer, der heute weder Freund noch Feind ist, wünscht meinen Tod. Ich aber nicht den seinen.“
Er wartete, und die Spannung, die ihn fest gepackt hielt, wurde unerträglich. Schließlich forderten die Buchen ihn auf, weiter voranzugehen. Befreit trat er sieben Schritte vor und fand sich unter zwei hoch aufragenden Ebereschen wieder. Kwin stand still und erwartete unruhig die nächste Frage.
„Wie wertvoll ist dir das Leben?“, fragte die Eberesche zu seiner Rechten.
„Sprich, und du bist frei.
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