Der falsche Auserwählte (Ein Artesian Roman) (German Edition)
Weges, das er einsehen konnte. Dann sprach die Weide zu seiner rechten mit Grabesstimme: „Du hast das Ritual unterbrochen. Ist dein Leben dir so wenig wert? Wer gab dir die Erlaubnis?“
Hatte Kwin zuvor noch einen weiteren Beweis für den Widersinn dieser Prüfung benötigt, so hatte er ihn nun erhalten. Die ständige Drohung, dass seine Antworten über sein Dasein als Mensch entscheiden würden, hatte ihren Sinn und ihre Kraft verloren. Anstatt ängstlich oder vorsichtig zu werden, erwachte sein Kampfgeist. Alle Müdigkeit und Furcht war mit einem Schlag vergangen. Er musterte die beiden Bäume zu seiner rechten und linken mit frostigem Blick. In seine Augen erschien jenes unwiderstehliche Funkeln, das jene, die ihn kannten, davor warnte, allzu nachlässig mit den eignen Worten umzugehen. Er würde nicht hier sterben, nicht zu einem Baum werden, soviel war gewiss. Er wandte sich nach rechts. „Ist das eure Frage? Wer mir die Erlaubnis gab? Nun, das ist leicht zu beantworten. Ihr selbst habt sie mir gegeben. Ihr und jeder andere Baum, dem ich je begegnet bin.“
„Wie das, Mensch?“
„Das ist schon die zweite Frage.“
„Und es werden weitere folgen“, erklärte die zweite Weide bestimmt.
Kwin schüttelte stumm den Kopf: „Auf die ich nichts weiter erwidern werde.“
„Beantworte unsere Fragen, Mensch. So lautet das Gesetz des Talikons. Das ewige Leben muss errungen werden in ...“
„Still!“, unterbrach die zweite Weide. „Für dich, Mensch, gelten besondere Gesetze. Die Weissagung gebietet: der Auserwählte muss geprüft werden. Nie hat ein Baum dir die Erlaubnis gegeben, das Ritual zu stören. Es ist so alt wie die Welt, erhaben selbst über unsere innigsten Wünsche und Gesetze. Erkläre dich Mensch, oder werde Baum.“
Das also war dem gescheiterten Erwählten zugedacht: ein Leben als Baum. Kwin lächelte grimmig. Diese Gewissheit beruhigte ihn außerordentlich und so sagte er: „Ich war ohne Ziel, dann wurde ich Tischler. Hätte ich jemals an der Möglichkeit gezweifelt, auch nur mit einem einzigen Baum sprechen zu können, stünde ich jetzt nicht hier. Das Ritual der Menschen zu durchbrechen - eines ihrer wahrhaft mannigfaltigen und zugleich eines der unsinnigsten; ich habe es missachtet, um das wahre Handwerk zu erlernen. Und jeder Gedankenaustausch, jedes einzelne Wort, das ich nachfolgend mit Baum und Busch gewechselt habe, gab mir die Bestätigung für die Richtigkeit meines Handelns. Das ist meine letzte Antwort.“
Stille senkte sich wie eine Wand leichter Schneeflocken an einem windstillen Wintertag über den schmalen Weg. Eine Stille, die Kwin nie zuvor erfahren hatte. Das einzige Leben, das er spüren konnte, war sein eigenes. Es schien, als wären die Bäume vor und hinter ihm, allen voran die beiden Weiden, zwischen denen er mit hoch erhobenem Kopf stand, leblos und tot.
Plötzlich funkelte die Luft vor ihm in leuchtendem grün und strahlendem goldgelb und aus diesen unwirklichen Farben formte sich in der Mitte des Weges ein Silberahorn. Kwin erkannte den Baum sofort. „Eichenherz!“, stöhnte er.
„Ja! Und nein zugleich. Ich habe meinen Lebensort nicht verlassen. Doch mein Erscheinen hier war notwendig. Du hast das Ritual der Prüfung durchbrochen, und damit das Gegenteil ihrer Unerlässlichkeit bewiesen. Doch dies gilt nur für dich, denn deine Prüfung ist die des Auserwählten. Wer die falschen Antworten benennt, wird wie diese Bäume, leblose Abbilder mächtiger Pflanzen. Sieh her.“
Wieder flimmerte die Luft und plötzlich standen Kwin und Eichenherz allein auf der Lichtung.
„Du hast mit deinem Leben gespielt, junger Kwin. Und ohne meine Fürsprache hätten die Bäume dein Leben für deinen Frevel gefordert. Doch du hattest Glück. Ohne es zu wissen, hast du die Frage der Weide beantwortet, freilich auf eine sehr eigentümliche Art.“
Kwin musste erst einen Moment nachdenken. Dann fiel es ihm wieder ein. Wer steht für dich ein? Das hatte die Weide wissen wollen. Eichenherz! Die Fürsprache und das Erscheinen des Ahorns war die beste Antwort.
„Nun, Tischler, drei Fragen bleiben zuletzt. Du musst dich ihnen stellen.“
Vor Kwins Augen kehrte das Baumspalier zurück. Eichenherz rückte zur Seite ihm gegenüber erschien ein weiterer Silberahorn. Vor ihm aber, nur wenige Schritte entfernt, endete die Schneise mit dem Beginn des Nachtwaldes.
„Wer verdient den Tod?“, fragte Eichenherz.
„Sprich, und du bist frei. Schweige oder fehle und du wirst wie
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