Der falsche Engel
direkt aus der Packung. Die weiße Flüssigkeit lief
ihm über das Kinn auf die Brust. Er achtete nicht darauf, er schüttete gierig einen halben Liter in sich hinein und ging in
die Dusche.
Er schwankte noch immer ein wenig, und ihm war schwindlig. Kein Wunder – das Neuroleptikum mit dem langen Namen führte zu
einer rapiden Senkung des Blutdrucks. Sein Gesicht juckte. Er schaute in den Spiegel – es war rot, aufgedunsen, die Augen
waren zu Schlitzen verengt, die Nase war geschwollen. Er rutschte auf dem Fliesenboden aus und wäre beinahe gestürzt, wurde
noch wütender und duschte eine halbe Stunde lang – erst kochendheiß, dann eiskalt, dann wieder heiß, dann erneut kalt. Das
hatte sein Vater ihm beigebracht, als er noch ein Kind war: Wenn du jeden Tag Wechselduschen nimmst, wirst du sehr alt und
nie krank. Aber früher war Stas dazu zu faul und zu träge gewesen.
Die Prozedur half. Er rieb sich mit dem Handtuch ab, bis er krebsrot war, und kehrte als neuer Mensch in sein Zimmer zurück.
Es war dreiviertel sechs. Er verspürte nicht das geringste Bedürfnis nach Schlaf. Er zog sich rasch an, holte eine kleine
Sporttasche hervor, packte ein paar T-Shirts hinein, sein dunkelblaues Lieblingshemd aus Seide, ein beigefarbenes Leinenhemd,
leichte Sommerhosen, Jeans, Unterwäsche und noch ein paar Kleinigkeiten, dann sprühte er sich mit seinem geliebten Gucci-Parfüm
ein und warf auch den Flakon in die Tasche.
Ganz unten im Wäschefach lag ein kleines Päckchen. Es enthielt fünftausend Dollar. Nach der Geschichte mit denBankkarten war er ungern ohne Bargeld. Er verstaute viertausend in einem Geheimfach der Tasche, tausend packte er in die lederne
Bauchtasche an seinem Gürtel.
Er warf noch einen Blick auf sein Zimmer, entdeckte das Handy-Ladegerät und nahm es mit. Zum Schluss richtete er in seinem
Bett eine Installation aus Kissen und einer Decke her, legte die leichte Strickdecke darüber und begutachtete das Ganze. Nicht
schlecht – man konnte durchaus denken, dass er zusammengerollt im Bett lag, die Decke über den Kopf gezogen.
Der erste Bus nach Kerkura fuhr um halb sieben. Von der Villa bis zur Bushaltestelle waren es zehn Minuten Fußweg. Im leeren,
kühlen Bus klappte Stas die Lehne des weichen Sessels zurück und döste ein; er schlief ruhig und fest. Nach einer Stunde war
er in Kerkura. Die Boote zum Festland gingen alle zwanzig Minuten. Dann fuhr er mit dem Bus bis Saloniki, und um drei Uhr
nachmittags, hungrig, aber beruhigt und beinahe glücklich, stieg er in den Zug Saloniki – Sofia.
Noch vor einigen Stunden hatte er keinerlei Perspektiven gehabt außer Hausarrest und regelmäßigen Spritzen, die bald einen
sabbernden, impotenten Idioten aus ihm gemacht hätten.
»Nein danke. Es reicht.« Stas lachte leise, den Blick auf die blinkenden Segel einer Jacht am Horizont gerichtet. »Einen Scheiß
könnt ihr allesamt! Ich kümmere mich lieber selber um meine Probleme. Ich weiß, was ich tun muss.«
Angela merkte nicht, wie sie aus dem Shiguli gezerrt und auf die Rückbank eines schwarzen Jeeps mit abgedunkelten Scheiben
gelegt wurde. Das geschah sehr rasch, in einer Autowerkstatt, nur zehn Kilometer vom Stadtring entfernt. Dort arbeiteten zwei
schweigsame Automechaniker in ölverschmierten Kombis.
»Ich geh dann also, ja?«, fragte Mila vorsichtig. »Gebt mir mein Geld, wie abgesprochen.«
Niemand antwortete ihr.
Plötzlich überkam sie eine seltsame, betäubende Schwäche. Ihre Beine wurden weich. Der semmelblonde Fahrer rauchte nachdenklich,
sah mit wässrigen hellblauen Augen durch sie hindurch und nickte kurz.
»Also, rechnen wir ab, und ich verschwinde, ja?«, freute sich Mila. Gleich würde sie die versprochene Summe in Empfang nehmen,
hinausgehen, ein Auto anhalten, und dann ab nach Scheremetjewo. Es war alles vorbereitet. In ihrer Tasche lagen ihr Pass mit
einem Schengen-Visum und ein Ticket nach Neapel. Von Neapel hatte sie schon immer geträumt.
Doch das Kopfnicken galt nicht ihr. Einer der Automechaniker trat lautlos von hinten an sie heran und holte eine Nylonschnur
aus der Tasche.
Zum Schreien kam sie nicht mehr, nach kurzem Todeskampf erschlaffte sie. Der Semmelblonde spuckte seine Zigarettenkippe aus,
nahm einen Packen Dollarscheine aus der Tasche, klatschte ihn wortlos auf den verdreckten Tisch und sprang in den Jeep. Der
zweite Automechaniker öffnete das Tor, und nach ein paar hundert Metern Feldweg fuhr der Jeep
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