Der falsche Engel
dem Oberst ein wenig Mut. Anhand der Stärke des Signals ließ sich bestimmen, wo genau im Gebiet
Moskau sich der Anrufer befand.
»Sie wurde zuerst mit Chloroform oder Halothan betäubt, für rund fünf Minuten«, erklärte Julia. »Dann bekam sie eine intravenöse
Injektion. Als sie aufwachte, hat sie gleich angerufen. Nach ihrer Stimme und ihrer klaren Sprache zu urteilen, ist zu vermuten,
dass sie höchstens eine Stunde lang bewusstlos war. Sie können also ungefähr ausrechnen, wie weit man in dieser Zeit kommt.
Ach ja, noch eins: Sie hat das Gespräch mitten im Wort abgebrochen, wahrscheinlich kam jemand herein.«
»Das ist klar«, sagte Raiski nachdenklich. »Das habe ich mitbekommen.«
Er ließ Julias Telefon abhören und überwachte zur Sicherheit auch die Wanzen in ihrem Sprechzimmer. Als sie aufgelegt hatte,
hörte er die Tür klappen, und eine aufgeregte Frauenstimme sagen: »Doktor, wir waren bei den Fettablagerungen im Hüftbereich
stehengeblieben.«
Raiski zuckte zusammen und stellte den Ton leiser.
Außer der Entführung Angelas gab es noch eine weitere Überraschung. Aus Griechenland hatte Nikolai angerufen, Gerassimows
Leibwächter, und mitgeteilt, dass Stas gestern früh aus der Villa verschwunden sei, wobei er seinen Pass und sämtliches Bargeld
mitgenommen habe. Nikolai erzählte von einem Tobsuchtsanfall, vom nächtlichen Besuch einer griechischen Psychiaterin und versicherte,
Stas habe das Land nicht verlassen, jedenfalls nicht mit dem Flugzeug.
»Er kann aufs Festland übergesetzt haben und von dort mit dem Zug gefahren sein«, bemerkte Raiski automatisch.
»Wohin?«, fragte Nikolai wehmütig.
»Woher soll ich das wissen?«, entgegnete der Oberst ebenso wehmütig.
»Können Sie das dem General selbst mitteilen?«
»Nein. Ich habe keine Zeit. Er ist Ihnen entwischt, also teilen Sie es auch dem General mit!«
»Das kann ich ihm nicht am Telefon sagen. Er hat Magenkrebs, inoperabel«, sagte Nikolai leise. »Er hat höchstens noch einen
Monat.«
»Krebs?«, fragte der Oberst begriffsstutzig. »Noch einen Monat? Gut, ich fahre zu ihm«, versprach er mit matter Stimme und
legte auf.
Er war so besessen von dem Gedanken, Ismailow zu fassen, dass er seine ursprüngliche Aufgabe, den abgöttisch geliebten einzigen
Sohn des Generals zu schützen, wofür er fürstlich entlohnt wurde, fast verdrängt hatte. Er hatte sich noch immer nicht die
Mühe gemacht, herauszufinden, wer eigentlich mit Stas Gerassimow abrechnen wollte.
Entweder er kriegte Ismailow, oder er rettete Gerassimow. Aber ohne Gerassimow hätte er kein Geld bekommen, um Ismailow zu
fangen. Doch ohne Ismailow interessierte ihn Gerassimow nicht. Sergej hatte recht: Sein Plan funktionierte trotzdem, wenn
auch anders, als ursprünglich gedacht. Ismailow entglitt ihm nicht, im Gegenteil, er lief ihnen womöglich sogar ins Netz.
Wenn jemand von so abstrakten Motiven geleitet wird wie Ehre und Blutrache, dann ist es schwierig und anstrengend, ihn zu
fangen. Geht es ihm aber nur um Geld, ist er wesentlich einfacher in eine Falle zu locken.
Ismailow ist es scheißegal, dass Gerassimow senior seinen Vater ins Gefängnis gebracht hat. Er pfeift auch auf die ganze Geschichte
mit Angela. Über Stas pumpt er Geld auf sein Privatkonto. Das ist das Entscheidende.
Er musste zum General fahren. Hoffentlich erfuhr der nie, dass über seine Bank Geld auf das Privatkonto eines tschetschenischen
Terroristen floss.
Siebenunddreißigstes Kapitel
»Schön, ich gebe Ihnen einen Termin für die Operation.« Julia seufzte. »Die Schwester schreibt Ihnen die Überweisungen für
die nötigen Voruntersuchungen aus. Ich weise Sie darauf hin, dass die Operation unter Vollnarkose durchgeführt wird; Sie müssen
vollkommen nüchtern sein. Anschließend sieben Tage stationärer Aufenthalt. Die Nähte werden nach zehn Tagen gezogen. Bis Sie
wieder völlig normal leben können, dauert es mindestens einen Monat. Die Vernarbung ist sehr schmerzhaft. Hier, machen Sie
sich bitte mit unserer Preisliste vertraut.« Sie reichte einer fülligen, unerträglich parfümierten Dame eine bereitliegende
Plastikmappe.
Das Telefon klingelte, Vika nahm ab.
»Nein, für heute nicht mehr. Ich kann Ihnen einen Termin für Dienstag geben. Wäre vierzehn Uhr dreißig Ihnen recht? Nennen
Sie an der Pforte Ihren Namen, dann bekommen Sie einen Chip. Aber vergessen Sie Ihren Ausweis nicht.«
Die Dame hatte inzwischen die Preisliste
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