Der falsche Engel
wo Stas mit dieser Sängerin drauf war,
dieser Angela, sogar was unter dem Bild stand, wollte er wissen. Der Oberst heißt …«
»Raiski!«, rief Nikolai freudig. »Ja, natürlich!«
Indessen saß Stas Gerassimow im Zugrestaurant des Expresszugs Saloniki – Sofia, aß Großgarnelen und trank dazu einen leichten
Weißwein. Sein Appetit und seine Laune waren lange nicht so gut gewesen. Die Bahnlinie führte an der Küste entlang; er schaute
aus dem Fenster und dachte an die Ereignisse des heutigen Morgens wie an einen schrecklichen, aber weit zurückliegenden Traum.
Nach der Spritze, die ihm die griechische Ärztin verabreicht hatte, war er in ein schweres, trübes Vergessen gesunken. Er
hatte weder Kraft noch Lust zum Denken. Die Tür zum Zimmer stand halb offen, eine Zeitlang hörte er noch leises Klappern und
gedämpfte Stimmen. Das Meer, das die ganze Nacht getost hatte, wurde gegen Morgen ruhig. Stas schloss die Augen und versuchte
ein wenig zu schlafen – ohne Erfolg.
Inzwischen war es im Haus ganz still. Der erste Gedanke, der sich in seinem Kopf träge regte, war die Frage, ob die beiden
zusammen ins Bett gegangen waren oder jeder in seinem Zimmer schlief.
Diesem Gedanken folgte der nächste: Ich liege hier, und die Dienstboten amüsieren sich und fühlen sich als Herren in meinem
Haus. Kolja, der Bastard, hat mich gefesselt wie einen Irren. Wie kommt er überhaupt dazu?
Sein Mund war trocken, seine Zunge geschwollen und rauh. Er hatte schrecklichen Durst. Er versuchte aufzustehen, aber sein
Körper gehorchte ihm nicht. Arme und Beine waren taub.
Was hat mir diese Ärztin bloß gespritzt? Dieser dritte Gedanke war vollkommen klar und alarmierend. Er ahnte, dass sie Psychiaterin
war, sie hatte ihm also ein Psychopharmakum gespritzt. Er erinnerte sich an ein Gesprächsbruchstück, das er aufgeschnappt
hatte. Die Ärztin hatte Nikolai gefragt, ob er intramuskuläre Injektionen geben könne, und gesagt, sie lasse ihm vierzehn
Ampullen da. Nikolai würde ihm also dieses Mistzeug weiter spritzen.
Wenn ich mich schon nach einer Spritze so beschissen fühle, was ist dann erst nach vierzehn?
Früher hatte er für den Leibwächter seines Vaters gleichgültige Verachtung empfunden, nun aber hasste er ihn. Und Oxana gleich
mit. Die beiden, die Haushälterin und der Leibwächter, waren Zeugen seines schrecklichen, beschämendenZusammenbruchs gewesen. Sie hatten ihn behandelt wie einen Verrückten. Und sie würden es seinen Eltern erzählen.
Der Hass verlieh ihm Kraft.
Stas rieb sich energisch Arme, Schultern und Nacken. Dünne Nadelstiche durchfuhren seine Muskeln, und seine Arme wurden wieder
gelenkiger. Er setzte sich hin und massierte sich die Beine. Schließlich konnte er aus dem Bett aufstehen und ein paar Rumpfbeugen
machen. Ihm war schwindlig, die widerwärtige, watteartige Schwäche wollte nicht weichen. Aber er konnte sich bewegen. Auf
Zehenspitzen schlich er zur Tür und blickte hinaus. Es war dunkel und still. Er glitt in den Flur und durchquerte das Wohnzimmer,
lautlos auf dem dicken Teppich. Von der Küche führte eine Tür in einen Anbau. Dort befanden sich ein weiterer Flur und zwei
Schlafzimmer für die Dienstboten, jeweils mit Dusche und Toilette.
In der Küche blieb er lauschend stehen. Er glaubte aus Nikolais Zimmer rhythmisches, charakteristisches Quietschen zu hören.
Er tat einen Schritt in den Flur und vernahm deutliches Schniefen und seliges Stöhnen, erst das eines Mannes, dann das einer
Frau.
»Schweine«, murmelte Stas, ging zurück in die Küche und schloss die Tür zum Anbau fest.
Auf dem Küchentisch entdeckte er die Schachtel mit den Ampullen und eine Packung Spritzen. Er schaltete das Licht an und nahm
den Beipackzettel heraus. Der Name des Medikaments sagte ihm nichts, doch er las den englischen Text aufmerksam und begriff,
dass er eine ziemlich große Dosis eines starken Neuroleptikums bekommen hatte, das bei Schizophrenie, agitierter Depression,
Delirium und anderen psychischen Erkrankungen angewandt wird, wenn der Patient sich aggressiv verhält. Dann folgte eine lange
Liste von Risiken und Nebenwirkungen, und Stas fielen fast die Augen aus dem Kopf.
»Diese Schweine«, stöhnte er leise und schaute in den Kühlschrank.
Er erinnerte sich, dass Milch toxische Stoffe aus dem Körper auswäscht. Im Kühlschrank stand eine ungeöffnete Literpackung.
Stas suchte nach einem Glas oder einer Tasse, fand aber keine und trank
Weitere Kostenlose Bücher