Der falsche Engel
folgte, und erschrak darum furchtbar, als eine tiefe Stimme hinter ihr sagte:
»Sie haben vergessen, die Diebstahlsicherung einzuschalten, Julia.«
Der Hof war leer. Im hellen Lampenlicht erblickte sie eine offene graue Wildlederjacke, darunter einen tadellosen schwarzen
Anzug, ein schneeweißes Hemd, eine strenge grauschwarze Krawatte, einen riesigen Adamsapfel und ein kantiges, glattrasiertes
Kinn.
Anstelle der Augen sah sie nur eine Brille mit schmalem Rahmen blinken. Der Mann war sehr groß und krankhaft mager.
»Warum sind Sie denn so nervös?«, fragte er herablassend. »Mein Name ist Raiski. Doktor Mamonow hat Ihnen meine Visitenkarte
gegeben.«
»Sie sind Oberst des FSB?«, vergewisserte sich Julia mit einer gewissen Erleichterung.
»Ganz recht. Ich muss mit Ihnen sprechen, Julia.«
»Was denn, hier und jetzt?«
»Ja, jetzt. Aber nicht unbedingt hier. Wenn Sie mich nicht zu sich nach Hause bitten wollen, können wir uns in ein Café setzen.«
»Hören Sie, warum diese Eile? Sie hätten morgen früh zu mir in die Klinik kommen können.«
Er lächelte und schüttelte den Kopf.
»In der Klinik sind Sie zu beschäftigt. Da kann man nicht gut reden. Verlieren wir keine Zeit, Julia, Sie sind müde, Sie hatten
heute eine schwierige Operation.«
Julia holte ihr Handy hervor, schaltete es ein und wählte die Nummer ihrer Wohnung, um Schura vorzuwarnen. Ihre Tochter konnte
um diese Zeit durchaus im Pyjama herumlaufen, das Gesicht mit weißem Schlamm oder sonstwas eingerieben.
»Schura, ich bin in fünf Minuten da. Nicht allein«, sprach sie rasch ins Telefon.
»Mit wem denn?«
»Mit einem fremden Mann.«
»Spinnst du jetzt total? Wieso bringst du einen Fremden mit nach Hause, noch dazu um diese Zeit?«
»Das erkläre ich dir später.«
Julia steckte das Telefon wieder weg und nickte Raiski zu.
»Kommen Sie. Ich habe vierzig Minuten für Sie, nicht mehr.«
»Vielen Dank.« Er lächelte breit, und Julia registrierte tolle, blendend weiße Zähne. »Vierzig Minuten reichen vollkommen.
Aber Ihrer Tochter sollten Sie nicht erzählen, wer ich bin und woher ich komme. Vorerst jedenfalls.«
Sie stiegen die Stufen zur Haustür hoch, Julia gab den Türcode ein und fragte, ohne sich umzudrehen: »Wie soll ich Sie denn
vorstellen?«
»Sagen Sie, ich sei ein Kollege.«
»Sie sehen nicht aus wie ein Kollege von mir.«
»Wieso?«
»Weil Sie aussehen wie ein Oberst des FSB. Vielleicht erklären Sie mir doch einmal, was Sie von mir wollen?«
Sie standen im engen Lift, und der Geruch seines teuren Eau de Cologne war ihr unangenehm.
»Hilfe«, sagte er leise und vielsagend, »wir brauchen Ihre Hilfe, Julia.«
Julia holte die Schlüssel aus der Tasche und traf das Schlüsselloch nicht gleich. Ihre Hände zitterten leicht.
»Mama!«, rief Schura aus der Tiefe der Wohnung. »Sag ihm, er soll die Schuhe ausziehen! Ich hab heute gewischt!«
»Ihr Tochter ist aber häuslich.« Raiski lächelte. »Ich habe zwei Jungen, und die rühren im Haushalt keinen Finger. Ein Mädchen
ist eben was anderes.«
Julia stellte ihm wortlos Pantoffeln hin, zog die Stiefel aus und ging auf Strümpfen in Schuras Zimmer. Schura saß in einem
verwaschenen alten T-Shirt am Schreibtisch. Ihr Gesicht war mit einer dicken Schicht grünlicher Salbe bedeckt.
»Hast du gegessen?«, fragte Julia und küsste die Tochter auf den Kopf.
»Ist ja nichts da.« Schura zuckte die Achseln. »Der Kühlschrank ist leer. Aber mach dir keine Sorgen, Mama, ich war nach der
Schule bei McDonald’s. Sag mal, wer ist denn dieser lange Kerl?«
»Woher weißt du, dass er lang ist?«, fragte Julia flüsternd.
»Ich hab aus dem Fenster gesehen. Ich bin schließlich neugierig. Vielleicht hast du ja einen Verehrer?«
»Machst du dich lustig?« Julia lachte unfroh. »Na schön, geh jetzt ins Bett. Sonst läufst du morgen wieder rum wie eine Schlafwandlerin.«
Oberst Raiski war nicht mehr im Flur. Er saß in der Küche und hielt eine nicht angezündete Zigarette in der Hand.
»Sie wollen mit mir bestimmt über Angela sprechen, ja?« Julia lehnte sich in den Stuhl zurück und schloss erschöpft die Augen.
»Wie kommen Sie darauf?«
»Weil sie brutal zusammengeschlagen und entstellt wurde und die Täter noch immer nicht gefasst sind. In der Presse geistern
Gerüchte herum, dass die Sängerin mit einem bekannten tschetschenischen Terroristen liiert ist. Gut möglich, dass er sie zusammengeschlagen
hat. Da ich lange und intensiv mit
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