Der falsche Engel
Angela zu tun haben werde, möchten Sie, dass ich Ihnen alles mitteile, was ich von Angela
oder über sie erfahre.«
Julia hatte hastig gesprochen, in einem Atemzug, aber so leise, dass der Oberst sich über den Tisch beugen musste.
»Clever.« Er nickte. »Prima, Doktor Tichorezkaja. Ich denke, ich habe mich in Ihnen nicht getäuscht.«
Sein herablassender Ton ärgerte Julia. Sie stand auf, schaltete den Wasserkocher ein und holte die Zuckerdose und eine Büchse
mit gemahlenem Kaffee aus dem Schrank.
»Und, sind Sie bereit, das zu tun? Ja oder nein?«
»Natürlich nein.«
Julia stellte einen türkischen Kaffeekocher auf den Herd und rührte den Kaffee mit einem langen Löffel um.
»Warum?«
»Weil Sie bei mir an der falschen Adresse sind. Ich bin kein Priester, meine Patienten legen bei mir keine Beichten ab. Und
wenn das doch mal vorkommt, dann wahre ich das Beichtgeheimnis.«
»War es Ihnen denn nicht unangenehm, als Sie um halb vier in der Nacht angerufen wurden?«, fragte Raiski einschmeichelnd.
»Doch, natürlich. Aber noch unangenehmer ist es mir, dass meine Kollegen Ihnen davon erzählt haben.«
Julia riss den Kaffeekocher vom Feuer und verschüttete dabei ein wenig Kaffee auf dem Herd.
Sie goss den Kaffee in Tassen und legte ein paar Kekse und Waffeln in eine Schale.
»Sie stellen mich vor die Wahl.« Raiski nahm vorsichtig einen Schluck Kaffee. »Ich kann Sie belügen oder Ihnen die Wahrheit
sagen. Was soll ich tun?«
»Was Sie wollen.«
»Na schön«, seufzte der Oberst. »Ihr Telefon wird abgehört.«
»Schon?« Julia stieß einen leisen Pfiff aus. »Seit wann denn das?«
»Ach, eine schlechte Tat ist schnell getan. Das Gespräch mit dem Mann, der sich als Angelas Produzent ausgab, wurde mitgeschnitten.
Herzlichen Glückwunsch, Julia – der Anrufer war der tschetschenische Terrorist Schamil Ismailow.«
»Ein Tschetschene?«, fragte sie gelassen. »Aber er hatte nicht den geringsten Akzent. Außerdem war er für einen Terroristen
zu höflich.«
»Ismailow hat in Moskau studiert, und zwar an der Hochschule des KGB.«
»Ein Kollege von Ihnen also?«, spottete Julia.
»In gewissem Sinne schon. Sein Vater war ein hoher Parteiboss in der Tschetschenischen Republik. Ismailow ist sozusagen ein
Prinz von Geblüt. Ausgezeichnete Manieren, keinerlei Akzent. Seine Mutter ist Russin. Aber wenn er will, spricht er mit starkem
Akzent, ist grob und flucht.«
»Sie wissen so viel über ihn« – Julia schüttelte den Kopf – »und können ihn trotzdem nicht fassen?«
»Im Prinzip könnten wir das. Natürlich nur, wenn Sie, Julia, bereit sind, uns zu helfen.«
»Das ist nicht witzig, Michail Jewgenjewitsch.«
»Das war auch kein Witz. Es ist so, Sie …« Er verstummte.
Nackte Füße tappten durch den Flur, dann erschien Schura in der Tür. Immerhin hatte sie sich das Gesicht gewaschen und eine
alte Jeans angezogen.
»Mama, ich hab Hunger«, verkündete sie, wobei sie Raiski unverhohlen musterte. »Tach! Ich heiße Schura.«
»Sehr angenehm.« Der Oberst stand auf, streckte die Hand aus und stellte sich vor: »Michail Jewgenjewitsch.«
Mit einem spöttischen »Hm« erwiderte sie den Händedruck, öffnete den Kühlschrank, hockte sich davor und erstarrte in tiefem
Nachdenken.
»Nimm dir eine Banane oder mach dir ein Käsebrot.«
»Die Bananen hab ich heute alle aufgegessen. Und der Käse ist ganz trocken.«
»Dann geh schlafen.«
Julia stand auf, hob Schura an den Schultern hoch und brachte sie in ihr Zimmer.
»Mama, geht er bald?«, murrte Schura ziemlich laut.
»Gute Nacht.«
Julia küsste ihre Tochter, ging in die Küche zurück, zündete sich eine Zigarette an und sagte fest: »Wissen Sie, Michail,
jeder sollte seins machen. Lassen Sie mich operieren, und Sie fangen Terroristen.«
Raiski nahm die Brille ab und rieb sich die Nasenwurzel. Wie bei vielen Brillenträgern wirkte sein Blick nun weich und hilflos.
»Julia, wir vergeuden nur sinnlos Zeit, dreschen leeres Stroh. Sie geben mir schon einen Korb, obwohl Sie noch gar nicht wissen,
worin meine Bitte besteht.«
»Na schön, Michail. Entschuldigen Sie. Ich bin ganz Ohr.«
»Ich bin vollkommen Ihrer Ansicht: Jeder sollte bei seinem Leisten bleiben. Ich fange Terroristen, und Sie operieren. Ich
möchte Sie bitten, sich einen Patienten anzusehen. Können Sie das tun?«
»Selbstverständlich.« Julia lachte nervös. »Bringen Sie ihn in meine Sprechstunde, von mir aus gleich morgen Vormittag.«
»Das
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