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Der falsche Engel

Der falsche Engel

Titel: Der falsche Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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Sprottendose.
    »Wie geht es dir, Michejew?«, fragte Stas und sah Juris undeutliches Spiegelbild im Fenster an.
    Keine Antwort.
    »Juri, hörst du mich?« Stas setzte sich vorsichtig auf einen Hocker. Er hätte gern geraucht, aber die Zigaretten steckten
     in seiner Jacke. Aufzustehen und sie zu holen war ihm irgendwie peinlich.
    Auf dem Tisch lag eine offene Schachtel »Parlament«. Stas langte danach, doch plötzlich schlug Juri mit der Hand darauf und
     riss sie an sich. Stas beugte sich reflexhaft vor, ein Knacken, ein Poltern, und im nächsten Augenblick saß er auf dem Boden,
     daneben lag der Hocker, bei dem gleich zwei Beine durchgebrochen waren.
    «He, Gerassimow, wieso zertrümmerst du die Möbel?« Die magere Gestalt stand über ihm und wirkte riesig, weil er sie von unten
     sah. »Ich wohne hier nur zur Untermiete, die Möbel gehören mir nicht.«
    Stas blieb nichts anderes übrig, als die ausgestreckte Hand zu ergreifen. Seine schlaffe, feuchte Hand wurde von einem eisernen
     Griff umklammert. Juris Finger waren schlank und biegsam wie die einer Frau, aber unglaublich stark. Zu stark für einen hinfälligen
     Trinker.
    Einige Sekunden lang standen sie sehr dicht voreinander. Die blauen Augen waren ausgeblichen, die Wangenrötelängst verglüht. Tiefe, grobe Falten. Anstelle der üppigen hellen Locken ein vollkommen grauer Igel, so schütter, dass die
     Kopfhaut durchschimmerte. Unter einem Auge ein blauer Fleck, auf der Wange eine Schramme. Geschwollene rote Lider.
    »Na schön, Gerassimow, gehen wir ins Zimmer rüber. Du hast also nichts zu trinken mitgebracht?«
    »Nein. Deine Schwester hat gesagt, du darfst nicht. Und ich fahre.«
    »Scheiße, wieso hörst du auf sie? Ohne Wodka bin ich kein Mensch.«
    »Hast du nie versucht aufzuhören?«
    »Wozu? Mein Leben ist sowieso im Arsch.«
    Bevor sie ins Zimmer gingen, holte Stas Zigaretten und Feuerzeug aus seiner Jacke.
    Das einzige Zimmer der Wohnung war ziemlich geräumig und fast leer: an der Wand eine schäbige Liege, am nackten Fenster ein
     Büroschreibtisch und zwei Stühle. An der Decke baumelte statt einer Lampe eine grelle nackte Glühlampe an einem krummen Kabel.
     An der Wand hing ein gerahmtes kleines Foto.
    Juri wies mit einem Kopfnicken darauf. »Erkennst du sie?«
    »Na klar!« Stas schluckte krampfhaft, wandte sich von dem Foto ab und zündete sich eine Zigarette an.
    Seine Hände zitterten merklich.
    »Erinnerst du dich gut an sie?«, fragte Juri leise, beinahe flüsternd.
    Stas tat, als hätte er die Frage nicht gehört, ließ seinen Blick durchs Zimmer schweifen und fragte: »Hast du einen Aschenbecher?«
    Juri stand auf, ging in die Küche, kehrte mit der Sprottendose zurück, stellte sie auf den Tisch und zündete sich ebenfalls
     eine Zigarette an. Im Zimmer herrschte düsteres,lastendes Schweigen. Juri sah Stas unverwandt an und stieß den Rauch durch die Nase aus. Stas starrte vor seine Füße und betrachtete
     konzentriert das Muster des Linoleums. Die kleinen gelben Quadrate verursachten ein Flimmern vor seinen Augen. Juris durchdringender
     Blick brannte, als presse jemand Trockeneis auf seine Haut. Er spürte – wenn das Schweigen noch ein paar Sekunden anhielt,
     könnte er sich nicht mehr beherrschen, er würde sich auf den jämmerlichen Trinker stürzen und ihn furchtbar verprügeln, womöglich
     sogar totschlagen.
    »Erzähl mir von dir, Juri. Wie geht es dir? Was machst du so?«, fragte er mit ruhiger, gleichmäßiger Stimme, ohne den Kopf
     zu heben.
    »Wie soll es mir gehen?«, erwiderte Juri leise und klagend. »Ich trinke. Bin krank. Ich hatte im Lager Tuberkulose. Offene.
     Sie haben mich mehr schlecht als recht behandelt, aber gesund bin ich deswegen nicht. Arbeit finde ich keine – wer nimmt schon
     einen aus dem Lager? Also faule ich so vor mich hin, falle meiner Schwester zur Last. Aber wieso tauchst du plötzlich hier
     auf?«
    »Ach, weißt du, ich hab in meinem alten Telefonbuch geblättert und deine Nummer gefunden, da dachte ich, ich ruf mal an.«
    »Wozu?«
    »Keine Ahnung. Es überkam mich plötzlich, ich hab mich ans Institut erinnert, an dich, daran, wie toll du Gitarre gespielt
     und gesungen hast.«
    »Jetzt singe ich nicht mehr. Die Lunge macht nicht mehr mit. Und der Spaß ist auch futsch. Das Lager hat mir alles kaputtgemacht
     – die Nieren, die Lunge, die Stimmung. Ich bin ein toter Mann. Sie haben mich ein Jahr früher rausgelassen, wegen meines Gesundheitszustands.
     Zum Krepieren, verstehst

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