Der falsche Engel
hätte mich bestimmt
umgebracht, aber das war ein unerschwinglicher Luxus, wie eine Auslandsreise zur Stalinzeit oder Sex mit einem Hollywoodstar.
Weißt du, Gerassimow, wenn man keine Sekunde allein ist, kann man sich nicht umbringen. Manche habens versucht, aber wenn
es mal einer schaffte, sich aufzuhängen oder sich die Pulsader aufzuschlitzen, wurde er meist gerettet. Und hat dann bitter,
bitter bereut. Dort versteht man sich darauf, einen zur Reue zu zwingen, glaub mir. Und der Tod bleibt ein süßer, sehnsüchtiger
Traum. Hast du einen Traum, Stas?« Juri umfasste seine Schulter und rückte ganz nah an ihn heran. »Was wünschst du dir im
Moment am meisten auf der Welt?«
Dass es dich nicht mehr gibt und nie gegeben hat, dachte Stas abwesend und fühlte Juris ruhigen, warmen Atem an der Wange.
Er roch weder nach Schnaps noch nach Krankheitoder Schmutz. Er roch überhaupt nicht, als wäre er ein Geist. Stas wurde schwindlig und übel.
»Du schwitzt stark, Gerassimow«, sagte Juri und wischte sich angeekelt die Hand an seiner Hose ab. »Weißt du, ich glaube,
deinem Freund wird der Tod bald als unerschwinglicher Luxus erscheinen. Er wird danach verlangen wie nach der schönsten Frau
der Welt, er wird nur noch daran denken. Steh mal auf.«
Stas erhob sich gehorsam. Juri warf seine Pantoffeln ab, legte sich hin und rollte sich zusammen.
»Hör mal, Stas, im Flur hängt meine Wattejacke, deck mich damit zu, mir ist irgendwie kalt.«
Stas schlurfte auf bleiernen Beinen in den Flur, nahm die Wattejacke von der Garderobe und deckte Juri zu. Als er sich über
ihn beugte, hörte er ihn verschlafen murmeln: »Geh nach Hause, Gerassimow. Du hast mich ermüdet. Du siehst ja, wie krank ich
bin. Und für deinen Freund gibts einen Ausweg aus seiner komischen Scheiße. Einen wunderbaren, sicheren Ausweg: einen schönen,
stabilen Strick.«
Vierzehntes Kapitel
»Mama, wach auf, Mama!« Julia öffnete die Augen und sah Schuras Gesicht vor sich.
»Wie spät ist es?«, fragte sie und streckte sich.
»Halb elf.«
»Warum bist du nicht in der Schule?«
»Aber Mama! Heute ist Sonnabend! Los, steh auf, lass uns wenigstens einmal im Leben zusammen frühstücken. Wann bist du denn
gestern nach Hause gekommen?«
»Ich glaube, um fünf.« Julia setzte sich auf und strich ihrer Tochter übers Haar. »Meine Kleine, mein Sonnenschein, du hast
mir so gefehlt.«
»Du mir auch, Mama«, sagte Schura mürrisch. »Los, ab in die Dusche.«
»Jawohl. Wo ist denn Vika?«
»In der Klinik. Sie erwartet dich«, sagte Schura und ging hinaus.
Natürlich hatte Julia keine Kollegin von Raiski ins Haus gelassen. Sie hatte Schwester Vika gebeten, sich um Schura zu kümmern.
Die beiden kamen prima miteinander aus, Vika war nur zehn Jahre älter als Schura. Die fröhliche, energische Vika hatte einen
guten Einfluss auf die düstere, komplizierte Schura. Mit Vika zusammen joggte Schura jeden Morgen, aß Müsli mit Obst und Nüssen
zum Frühstück, trank frischgepressten Orangensaft und Biokefir und räumte ohne Murren nicht nur ihren Schreibtisch auf, sondern
die ganze Wohnung.
Als Julia aus der Dusche kam, hörte sie die Saftpresse heulen und entdeckte auf dem Küchentisch zwei Schälchen mit Müsli.
»Mama, wann ist das endlich vorbei?«, fragte Schura, während sie Saft eingoss.
»Bald, mein Sonnenschein. Sehr bald.«
»Vater hat angerufen. Ich hab gesagt, du bist auf Dienstreise. Er wollte mich besuchen, aber ich hab ihn abgewimmelt.«
»Warum?«
»Dumme Frage!« Schura wölbte die Unterlippe vor und pustete, so dass ihr langer Pony aufflog wie ein Vogelflügel. »Das hatten
wir doch schon. Erst sitzt er schüchtern auf der Stuhlkante und sieht mich bittend an, dann erzählt er mir, wie gut er ist
und wie schlecht du bist.«
»Sag mal, tut er dir gar nicht leid?«
»Mein Papa?« Schura legte klingend den Löffel beiseite und lachte. »Ach, Mama, ich lach mich tot! Haben wir beide sonst nichts
weiter zu besprechen, wie?«
»Antworte mir nur – tut er dir gar nicht leid?«
»Nein, Mama. Er tut mir nicht die Bohne leid. Wenn er ein bisschen durchgedreht ist, dann ausschließlich auf eigene Initiative.
Er konnte es einfach nicht ertragen, dass du begabter bist als er, dass du mehr verdienst, dass du stark, schön und selbständig
bist.«
»Hör auf. Er ist keineswegs unbegabt und hässlich.« Julia verzog das Gesicht. »Er wurde bloß so erzogen, ihm wurde von Kindheit
an eingeredet, dass
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